Kinder und Jugendliche in der Shoah

„Als ich unsere Mutter nicht mehr sah, dachte ich, sie sei tot. Ich erinnere nicht, dass ich geweint habe. Ich stellte sie mir auf den Leichenbergen vor, die wir täglich sahen. Die waren nicht weit weg von unserer Baracke. … Wir haben eine Schutzmauer um uns errichtet. Wir mussten das tun, um zu überleben, um das alles hinnehmen zu können: das Fehlen der Mutter, den Hunger, den Durst. Diese Mauer hat uns geholfen, zu überleben, das Schreckliche zu überstehen.“

Die Überlebende Tatjana Bucci, als Kind in Auschwitz

Seit 1996 ist der Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau und der beiden anderen Konzentrations­lager Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 ein bundesweiter, gesetzlich veranker­ter Gedenktag für alle Opfer des Nationalsozialismus. Seit 2005 ist er auch der Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust (»Holocaust Remembrance Day«).

Der Begriff Holocaust bedeutet Brand-/Ganzopfer. Das ist aus Sicht vieler Juden und Jüdinnen irreführend. Es handelt sich nicht um ein Opfer – für was oder wem sollte das jüdische Volk geopfert werden?! -, sondern um die Shoah (aus dem Hebräischen), die – beabsichtigte – Vernichtung allen jüdischen Lebens in Europa.

Zum diesjährigen Gedenken wollen wir vor allem auf das Schicksal der versteckten, ermordeten und überle­benden Kinder und Jugendlichen in der Shoah hinweisen. Zwei Drittel der europäischen Juden, dies ent­spricht rund sechs Millionen Menschen, wurden von den Nationalsozialisten und ihren Kollaborateuren er­mordet. Diese Zahl umfasst rund 1,5 Millionen Kinder und Jugendliche im Alter von 0 bis 17 Jahre.

Mindestens 232.000 Säuglinge sowie Kinder und Jugendliche wurden nach Auschwitz verschleppt. 216.000 waren Juden und Jüdinnen, 11.000 Sinti und Roma. Sie kamen aus allen Teilen Europas, nur einige wenige überlebten.

So wie der Name Auschwitz für das monströseste Verbrechen, das die Menschheit kennt, steht, so steht das Tagebuch der Anne Frank auch für die Geschichte vieler anderer jüdischer Kinder. Die überlieferten Berichte von anderen ermordeten Kindern oder Überlebenden, die ihre Kindheit während der Verfolgung durch die Nazis verbringen mussten, sind vielen Heutigen eher unbekannt. In diesem Begleittext zu unserem Aufruf wollen wir ihnen eine Stimme geben. Der Weg, den Tausende Kinder mit ihren Familien oder auch bereits allein gehen mussten, ist eine Hölle aus vielen unterschiedlichen Stationen:

Ausschluss

„Wir (meine Freundin und ich) gingen immer zusammen von der Schule nach Hause, bis sie mir eines Tages sagte, ihr Vater erlaube das nicht mehr; auch dürfe ich nicht mehr mit ihr spielen, weil ich eine Jüdin sei. Ich war vernichtet.“ (Die Überlebende Eva Schaal)

Ghetto

 „… 5 Juden sind von der Hand von Gendarmen umgekommen … der Vater, 3 Söhne und die Tochter. In Kielce gibt es täglich mehrere Opfer für das Rausgehen aus dem jüdischen Viertel. Unter solchen fürchterlichen, schlechten Bedingungen vergehen die Tage und die Wochen voll Angst und Schrecken.“ (aus dem Tagebuch des 12jährigen Dawid Rabinowicz, das am 1. Juni 1942 unvermittelt mit einem begonnenen Satz endet, als er, seine Familie und viele andere nach Treblin­ka deportiert und ermordet wurden.)

Deportation

Aus dem Krakauer Ghetto ins Lager Plaszów: Die Überlebende Stella Müller-Madej („Das Mädchen von der Schindler-Liste“) beschreibt in ihren Beobachtungen als 12jährige eine De­portation. „Beim Kinderheim waren Lastwagen vorgefahren. Ich stand am Fenster und schaute hin­aus. … Im Zimmer herrschte Grabesstille. Von der Straße dringen die entsetzlichen Schreie der Kin­der, Hilferufe, das widerliche Gegröle der sich amüsierenden Deutschen. Sie werfen die Kinder aus dem Fenster auf die Ladeflächen der Lastwagen, manchmal treffen sie nicht. Auf der gegenüberlie­genden Seite steht einer von ihnen und schießt auf die herabfallenden Kinder. Ein kleines Mädchen ist durch das Tor geflohen, läuft jetzt mitten auf der Fahrbahn, die Puppe an die Brust gedrückt. … Das Kind ist nicht älter als fünf. Der Soldat geht in die Hocke. Ein Schuß. Das kleine Mädchen liegt reglos“. 

Arbeitslager

„Als das Mädchen elf Jahre alt war, begann die SS die Kinder zu vernichten. Deshalb fälschte Sophie – in ihrer Todesangst – ihr Geburtsdatum… . Nun galt sie als Dreizehnjährige und wurde sofort von Auschwitz nach Ravensbrück gebracht. … in eine Munitionsfabrik. Tag- und Nacht­schicht wechselten wöchentlich. Hunger und Kälte führten zur völligen Erschöpfung des zarten Mädchenkörpers.“ Tuberkulose, Ermordung in der Gaskammer. (aus: Frauen KZ Ravensbrück, Bln 1977, S. 58f)

Vernichtungslager

Im Vernichtungslager Auschwitz wurden Neugeborene jüdischer Mütter sofort in einem Fass ertränkt und vor die Baracke geworfen. Nur als absolute Ausnahme konnte ein Säugling in einem Lager die Befreiung erleben.

Nicht nur in Auschwitz, auch im KZ Neuengamme (Hamburg) wurden wahnsinnige medizinische Ex-perimente mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen durchgeführt. Über die Experimente des SS-Arztes Mengele, speziell für die „Zwillingsforschung“, sind inzwischen grauenhafte Einzelheiten bekannt.

Die Experimente in der „Tuberkulose-Forschung“ des SS-Arztes Heißmeyer in Neuengamme (Hamburg) mit aus Auschwitz angeforderten Kindern sind vielen unbekannt geblieben. Die überlebenden Kinder und russische Gefangene wurden zum Kriegsende am Bullenhuser Damm ermordet.

Die 200 Kinder aus dem Waisenhaus im Warschauer Ghetto unter Leitung von Janusz Korczak wurden gemeinsam mit ihm und ihren Erzieherinnen 1943 ins Vernichtungslager Treblinka deportiert und vergast.

Viele Menschen auf der ganzen Welt gedenken der Ermordeten und kennen die Schriften von Janusz Korczak, Arzt, Schriftsteller und Pädagoge mit einer unerschütterlichen Haltung der Liebe zum Kind, der Achtung vor der kindlichen Würde und der Anerkennung der Unverfügbarkeit der Person des Kindes und seiner Rechte.

Todesmärsche

Ungefähr 65.000 Häftlinge – Erwachsene und Kinder – wurden zwischen August 1944 und Mitte Januar 1945 in westlicher gelegene KZ „evakuiert“. Die übrigen wurden danach zu Fuß in Marsch gesetzt und nach einigen Tagen zum Teil in offenen Waggons Richtung Westen abtransportiert. Viele kamen dabei ums Leben.

„Schon viele Tage waten wir durch tiefen Schlamm; ein langer Zug, bewacht von rumänischen Soldaten und ukrainischen Schlägern, die prügeln und herumschießen. Vater hält mich fest an der Hand. … Der Schlamm ist tief, ich reiche nicht bis auf den Grund. …Danach kommt das furchtbare Hinfallen, kommen die vergeblichen Versuche, das sinkende Kind nochmal herauszuziehen. Nicht nur Kinder versinken im Schlamm, auch große Leute gehen auf die Knie und ertrinken.“ (Der Überlebende Aharon Appelfeld in seiner Autobiographie, Geschichte eines Lebens. 1932-2018)

Der Weg der überlebenden Kinder durch diese Hölle ist gekennzeichnet von unfassbarem Lebenswillen und unglaublicher Lebensener­gie gegen die sadistische Quäl- und Mordlust der Nazis und ihrer Helfer*innen, z.T. lebten noch Vater oder Mutter oder andere Familienmitglieder mit im Versteck oder im Lager – und auch durch glückliche Zufälle, praktische Intelligenz und manchmal auch spontane oder organisierte Solidarität aus der Bevölke­rung oder sogar ganz selten von einigen Lagerbewacher*innen.

Missbrauch des Leids

Wer hier Parallelen zieht, wer Kinderschuhe – das Symbol für die ermordeten Kinder in Auschwitz – nutzt (wie bei einer Demonstration von Coronaleugner*innen in Brandenburg im März 2021), um die Wahnideen einer Impfdiktatur u.ä. zu propagieren und wer sich als „Opfer“ über das Tragen eines Judensterns präsentiert, ist zutiefst inhuman, unfähig zu jedem Mitgefühl und bar jeden historischen und politischen Bewusstseins.

Um dieser Haltung entgegenzuwirken und um zu verhindern, dass das »Nie wieder« zur pathetischen Flos­kel verkommt, gehen wir immer wieder in die Öffentlichkeit – für ein demokratisches Zusammenleben in Worpswede, für ein zukunftsorientiertes Erinnern und Gedenken – Gemeinsam gegen Rechts.

Wir gedenken der Ermordeten, ihrer Famili­en und der Überlebenden, die bis heute unter den Traumata der Verfolgung und der KZ leiden. Wir sind allen dankbar, die trotz großer Gefahr den Verfolg­ten dabei halfen, den mörderischen Nazis zu entgehen.

Katharina Hanstein-Moldenhauer