Eine nicht gehalteneRede zur Gedenkveranstaltung am 9. November 2020
Dr. Harro Jenss (Freundeskreis Haus im Schluh, Worpswede)
„In dieser Zeit zeigte sich, dass der Begriff der Kollegialität von nun ab an die Rasse gebunden war“, so Hermann Strauß, Ärztlicher Direktor der Medizinischen Klinik am Jüdischen Krankenhaus in Berlin in seinen Aufzeichnungen Ende April 1933.
Wer als „nicht-arisch“ galt, war bereits im „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“– wie dieses Ausgrenzungs-Gesetz euphemistisch hieß – vom 7. April 1933 definiert: wer nur einen jüdischen Eltern- oder Großelternteil hatte, wurde verfolgt und bereits 1933 aus den kommunalen oder städtischen Institutionen entlassen. Den jüdischen Ärztinnen und Ärzten wurde die Kassenzulassung entzogen, die Rechtsanwälte wurden aus den Rechtsanwaltskammern ausgeschlossen…. All dies geschah zwei Jahre vor den unsäglichen Nürnberger Rassengesetzen vom September 1935.
Gleich nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten im Januar 1933 hatte die staatliche antisemitische Propaganda, die Demütigung, Entrechtung und “zunehmende Einkreisung“ –wie Saul Friedländer es ausdrückte – der deutschen Juden begonnen. Im September 1938 wurde den jüdischen Ärztinnen und Ärzten die Bestallung entzogen, sie durften sich fortan nicht mehr Ärzte nennen. In begrenzter Zahl war ihnen erlaubt, als sogenannte „Krankenbehandler“ nur noch jüdische Patienten zu behandeln. Seit 1933 führte eine Vielzahl von antijüdischen Verordnungen und Gesetzen dazu, den deutschen Jüdinnen und Juden ihre Lebensgrundlage zu entziehen.
Die Verfolgungen kulminierten vorläufig am 9. November 1938: mit den brennenden und zerstörten Synagogen, mit zerstörten Wohnungen und jüdischen Friedhöfen, mit Ermordungen und Verhaftungen.
Die kalten Blicke von Tarnów
Im März 1942 reisen zwei junge Anthropologinnen in die südpolnische Kleinstadt Tarnów zu „rassenkundlichen Studien“. Eine von Ihnen kommt aus dem Krakauer Institut für Deutsche Ostarbeit. Sie ist dort mit der Erfassung von Rassenmerkmalen bei Juden und Polen befasst. Die andere arbeitete in Wien als „Gutachterin in Abstammungsfragen“ mit der Reichsstelle für Deutsche Sippenforschung zusammen. In Tarnow müssen seit dem Überfall der Deutschen Wehrmacht auf Polen 30.000 Juden auf engstem Raum zusammenleben, unter ihnen viele Flüchtlinge. An 565 Männern, Frauen und Kindern führen die beiden Forscherinnen ihre „Vermessungen“ durch und dokumentieren Lebensdaten. Sie werden begleitet von einem jungen Fotografen, der die Menschen frontal, im Profil und mit gerecktem Kopf fotografiert und schließlich von den entkleideten Menschen Nacktaufnahmen anfertigt. Der junge Fotograf ist Rudolf Dodenhoff, nach 1945 bekannter Landschafts- und Porträtfotograf hier in Worpswede…
In Tarnow wird im Sommer 1942 ein Ghetto errichtet, die meisten der 30 000 Juden, werden Ende 1942 / Anfang 1943 ermordet. Eine gegenwärtige Ausstellung „Der kalte Blick – Letzte Bilder jüdischer Familien aus dem Ghetto von Tarnow“ in der Berliner Gedenkstätte Topographie des Terrors dokumentiert die „rassenkundlichen Fotografien“ und die oben erwähnte staatlich geförderte „Studie“. [Margit Berner hat ihre Forschung zu diesen „Letzten Bildern“ in einem soeben erschienen Buch zusammengefasst].
Neben den uralten religiösen Antijudaismus trat Ende des 19. Jahrhunderts ein aggressiver Rassenantisemitismus. Die NS-Machthaber machten den rassistischen Antisemitismus zur staatlichen Politik und setzten ihre Ziele auf schreckliche Weise um. Ihre Ideologie leiteten sie aus der pseudowissenschaftlichen Rassentheorie und der Rassenhygiene ab. Daraus übernahmen die Nazis die Vorstellung, die Menschheit ließe sich in verschiedene Rassen einteilen und setzten den Begriff der Rasse mit dem des Volkes gleich. Das deutsche Volk erklärten sie zu einem Vertreter der sogenannten arischen Rasse. Als Ur-Rasse sei sie als vollkommen allen anderen Rassen überlegen und daher zum Herrschen über diese bestimmt. In der NS-Ideologie bedeutete das einzelne Individuum nichts, die Rasse und der „Volkskörper“ waren entscheidend.
Hinter der Idee der sogenannten Rassenpflege steckte die Auffassung, die arische Rasse müsse ihre Reinheit und Qualität erhalten. Nur so könne sich die Menschheit zu Höherem entwickeln. Die Juden erklärten die Nazis zu einer eigenen Rasse und unterstellten ihr, einen schädlichen Einfluss auf die Qualität der arischen Rasse und des „deutschen Blutes“ zu haben. Daher müsse sie vernichtet werden. Die gezielte NS-Propaganda war radikal: Arier gegen Juden. Die Bilder sogenannter „Rassenschänder“, gemeint sind Beziehungen zwischen Deutschen und Jüdinnen, die durch die Straßen getrieben wurden, sind unvorstellbar – sie waren Wirklichkeit.
Der Rassenwahn der Nazis erstreckte sich neben den Juden auf unheilbar Kranke und Menschen mit Behinderung. Diese waren eine sogenannte „Belastung“ für die Qualität der arischen Rasse. Die NS – Erb- und Rassenpflege bestand zunächst in der Zwangssterilisierung angeblich erblich vorbelasteter Menschen, sie gipfelte in der Massentötung unter dem Tarnnamen „Aktion T4“.
„Menschenrassen“ gab und gibt es nicht! Sie gibt es auch nach der modernen genetischen Forschung nicht!! Das Konzept der „Rasse“ ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung. „Rasse“ ist ein biologistisches Konstrukt, das keine reale Entsprechung hat. Anders ausgedrückt: „Die Einteilung des Menschen in Rassen war und ist zuerst eine gesellschaftliche und politische Typenbildung, gefolgt und unterstützt durch eine anthropologische Konstruktion auf der Grundlage willkürlich gewählter Eigenschaften. Diese Konstruktion diente und dient dazu, offenen und latenten Rassismus mit angeblichen natürlichen Gegebenheiten zu begründen und damit eine moralische Rechtfertigung zu schaffen“, – so in der Jenaer Erklärung aus dem Institut für Zoologie und Evolutionsforschung der Friedrich Schiller Universität 2019.
Neben dem Rassenwahn der Nationalsozialisten standen die Verschwörungs-Erzählungen vom internationalen Judentum, das die Weltherrschaft erringen wolle. Die NS-Propaganda variierte diese Vorstellungen in vielfältigen verschwörungstheoretischen Metaphern – „der“ Jude als Drahtzieher hinter den Kulissen des Geschehens in der Welt, „der“ Jude als überall auf der Welt agierender egoistischer Wucherer und Hehler… Die antisemitische NS-Propaganda – Wanderausstellung „Der ewige Jude“ diente der gezielten Diffamierung – sie wurde am 8. November 1937 eröffnet und gehört zu dem, was ein Jahr später geschah und woran wir heute erinnern.
Unsere Gegenwart hat die Vergangenheit noch lange nicht hinter sich gelassen! Antisemitische Stereotype sind nicht verschwunden! Tatsächlich tauchen bei den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen Verschwörungsmythen auf, die sich seit Jahrhunderten halten. Eine Umfrage der Universität Oxford ergab kürzlich, dass ein Fünftel der befragten Briten der These „Juden haben das Virus erschaffen, um die Wirtschaft lahmzulegen und finanziellen Profit daraus zu ziehen“ zumindest ein wenig zustimmen.
Erinnerung an den 9. November 1938 heißt für uns:
N I E WIEDER!