Eine nicht gehaltene Ansprache zur Gedenkveranstaltung am 9. November 2020:
Pastor Jörn Contag (Ev.-luth. Kirchengemeinde Worpswede)
Erinnerung und Mahnung sind die tragenden Begriffe, unter denen Gedenktage zur Reichspogromnacht seit langem stehen. „Erinnern für die Zukunft“, damit sich Schuld, wie sie von deutschem Boden ausgegangen ist, nicht wiederholt. Mir scheint, die Schwerpunkte haben sich in den vergangenen Jahrzehnten verschoben: Früher wurde die Erinnerung betont, weil noch viele von eigener lebendiger Erfahrung berichten konnten. Die Mahnung stand dahinter zurück, weil wir uns nicht vorstellen konnten, dass sich derartige Schuldgeschichten wiederholen können. Heute stelle ich mit Bestürzung und Sorge fest, dass die Mahnung zunehmend das Gebot unserer Zeit ist. Die Rückkehr zu Nationalstaaten und Angst vor „den Fremden“, eine erschreckende Empathielosigkeit gegenüber Flüchtenden, neue Bewegungen des Rassismus, Erosion des Rechtsstaates in vielen Staaten und ein neues Erwachen von Antisemitismus zeigen Zeichen von Unmenschlichkeit, die wir hofften, hinter uns gelassen zu haben. Die Erinnerung mahnt uns, dass wir den Weg zur Unmenschlichkeit auch in ihren Anfängen nicht dulden dürfen. Die Kirchen sind aufgerufen, sich an ihr Schweigen zur Reichspogromnacht ebenso zu erinnern wie an ihr Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945: „Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ Wir lassen uns mahnen und sind zur Mahnung aufgerufen, Hass, Ausgrenzung, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus entgegenzutreten, besonders aber an den Orten, an denen wir Verantwortung tragen und wo von uns ein klares Wort erwartet und gehört wird. Wir als Kirche wollen auch dafür beten, dass der Geist des Todes keine Macht über die Menschen bekommt, sondern der Geist der Liebe und der Verständigung das letzte Wort behält.