21. März 2022

Ich möchte heute nicht über Coronaleugner, Impfgegner und deren Verschwörungserzählungen sprechen, sondern – sehr subjektiv – einige Gedanken zu Putins Angriffskrieg in der Ukraine äußern. Im zweiten Teil nehme ich Bezug auf Rose Ausländer und werde von ihr drei Gedichte lesen.

Die Bilder aus Mariupol und anderen ukrainischen Städten sind unerträglich, sie zerreißen mir das Herz. Eine Stadt mit vor Vier Wochen noch 450 000 Einwohnern, heute vollständig zerstört – eine Ruinen- und Geisterstadt. Natascha Wodin hat in ihrem Roman „Sie kam aus Mariupol“ die Stadt ihrer Mutter vor dem zweiten Weltkrieg beschrieben.

NIE WIEDER KRIEG – das war die Hoffnung nach dem Ersten Weltkrieg. Jenes berühmte Anti-Kriegsplakat von Käthe Kollwitz vom August 1924 zeugt davon

NIE WIEDER KRIEG – das war unsere Hoffnung nach 1945

NIE WIEDER wir dachten, all unser Erinnern an die Verfolgungen, Zerstörungen, Massenmorde durch die Nationalsozialisten sind Mahnung genug … Wir dachten, einen Krieg mitten in Europa kann es Nicht mehr geben….Illusion

Im August 1945 wurde in San Francisco als eine Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg die UN – Charta mit dem Verbot eines Angriffskrieges verabschiedet Ich habe mir trotz Tschetschenien, trotz Georgien, trotz der Krim , trotz der brutalen Sprache Putins und seiner imperialen Phantasien, diesen Angriffskrieg in der Ukraine, diese völkerrechtswidrige Invasion eines souveränen Staates nicht vorstellen können….

Es gibt eine enge sprachliche, religiöse, kulturelle Verwandtschaft zwischen Russen und Ukrainern, eine wirtschaftliche und demographische Verflechtung, es gab immer wieder Phasen eines guten Zusammenleben von Russen und Ukrainern – trotz aller Konflikte in der gemeinsamen Geschichte, auch in der jüngeren Geschichte trotz nationalistischer Entwicklungen und trotz revisionistischer Bestrebungen seit dem Zerfall der Sowjetunion. Die Metapher der Familie oder des Brudervolkes ist durchaus treffend…

Putin hat sämtliche Regeln gebrochen und vergewaltigt mit seinem Krieg unsere Vorstellung von Frieden und Freiheit –so formulierte es die ukrainisch-deutsche Schriftstellerin Katja Petrowskaja.

Es ist beschämend, dass nach der verzweifelten Rede Selenskyjs in der letzten Woche im Bundestag kein Regierungsmitglied spontan geantwortet hat und dass die Abgeordneten zur Tagesordnung übergingen – sich zu den Geburtstagen gratulierten und über neue Ausschussmitglieder sprachen…

Ein kleiner Blick in die Geschichte der Ukraine. Ich folge dabei den Publikationen von Andreas Kappeler, der Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien gelehrt hat.

Die Ukraine ist nicht erst 1991 entstanden, sondern nationale Bewegungen gab es bereits im 18. und 19. Jahrhundert und 1917 / 18 gab es für kurze Zeit eine erste unabhängige Ukraine.

Die Geschichte der Ukrainer ist lang und hoch komplex. Sie verlief teils getrennt von der Geschichte der Russen, teils mit mit ihr verbunden, Verflechtung und Annäherung sowie Distanzierung und Auseinanderentwicklung sind Kennzeichen dieses Verhältnisses.

Seit dem 18. Jahrhundert zeigte sich jedoch eine Asymmetrie in diesem Verhältnis, die darin gipfelte, das Russland im 19. Jahrhundert die sog. Klein-Russen, wie die Ukrainer offiziell hießen, als Teil eines „all-russischen Volkes“ betrachtete und ihnen eine eigenständige Geschichte absprach – ein Narrativ, das Putin seit langer Zeit verbreitet ( und das im Westen durchaus Gehör fand. Helmut Schmidt in der „ZEIT“ im März 2014 kurz nach der Annexion der Krim : „Die Ukraine ist ein unabhängiger Staat, der kein Nationalstaat ist.
Zwischen Historikern ist umstritten, ob es überhaupt eine ukrainische Nation gibt“ – Zitat Helmut Schmidt!! ).

Es gibt aus dem Jahre 1762 !! von Semen Divovych, einem Absolventen der Kiewer Akademie, ein in russischen Versen abgefasstes Gespräch zwischen Großrussland, dem Zarenreich und Kleinrussland, ungefähr der heutigen Ukraine entsprechend, damals ebenfalls Zarenreich.

Zu Beginn fragt Großrussland Kleinrussland: „Welcher Herkunft bist du und woher bist du gekommen? “

Kleinrussland erklärt seine glanzvolle Geschichte seit dem Mittelalter, unter der Herrschaft der polnischen Könige, besonders die Heldentaten der Kosaken bis zu ihrer freiwilligen Unterstellung unter den russischen Zaren Alexei I., Vater Peter des Großen.

Großrussland antwortet: „Weißt du mit wem du sprichst, oder vergisst du das? Ich bin Russland. Weshalb missachtest du mich? Als ob du zu einem anderen Russland gehörtest und nicht zu mir.“

Kleinrussland entgegnet: „Ich weiß, dass du Russland bist, und dies ist auch mein Name. Weshalb schreckst du mich. Ich bin selbst auch tapfer. Ich bin nicht dein Untertan geworden, sondern deines Herrn. Von welchen Vorfahren du auch immer abstammst, glaube nicht, dass du selbst mein Herrscher bist. Denn dein Herr und mein Herr gebieten über uns beide. Und der Unterscheid zwischen uns sind nur die Beiwörter, du bist das Große, ich das Kleine, und wir leben in benachbarten Ländern… Denn du und ich sind gleich und bilden ein Ganzes.“

Am Ende ist Großrussland überzeugt: „Genug, ich nehme deine Wahrheit an. Ich werde von der Freundschaft mit dir nicht ablassen
wir werden fortan in unzerbrechlicher Eintracht leben.“

Diese Verse wurden vor 260 Jahren geschrieben!! Diese Verse spiegeln gleichsam das Muster wider, nach dem letztlich ein friedliches Nebeneinander in den letzten 250 Jahren immer wieder verhindert wurde, nach dem sich die vielen Konflikte immer neu entwickelten.

Warum jetzt dieser Krieg mit der Ermordung so vieler Menschen und der Zerstörung eines ganzen Landes?

Ein sehr großer Sprung zu Rose Ausländer und ihrem Gedicht „Czernowitz vor dem Zweiten Weltkrieg“:

„Vier Sprachen verständigen sich – verwöhnen die Luft
Bis Bomben fielen – atmete glücklich die Stadt“

Czernowitz in der Südwest-Ukraine um 1900 – multikulturell, Polen, Ruthenen (Ukrainer in der Habsburger Monarchie im Westen des Landes), Deutsche, Rumänen, 32 % bekannten sich zur jüdischen Religion, es wurde jiddisch gesprochen. Übrigens ähnlich ethnisch-religiös vielfältig wie Odessa oder Mariupol in jener Zeit.

Czernowitz ein Mikrokosmos, in dem verschiedene Nationalitäten nebeneinander lebten ohne Krieg – in einem Stadtrat vertreten, jeder hatte seine Gemeinde, noch heute gibt es dort ein österreichisches Haus, ein deutsches Haus usw. – eine lebendige Stadt bis zum Ersten Weltkrieg – danach kam die Stadt an Rumänien, der Nationalismus begann, rumänisch wurde plötzlich per Verordnung führende Sprache – die Probleme begannen.

1939 wurde die Stadt russisch nach dem Hitler-Stalin-Pakt, dann von den Nazis mit unendlichem Terror überfallen, danach von der Roten Armee befreit, dann zur Ukrainischen Sowjetrepublik gehörig.

Als ich 2015 Czernowitz besuchte, begegneten mir viele junge Menschen, europäisch denkend, an Kontakten und Austausch interessiert, auf Eigenständigkeit bedacht, es wurde versucht, trotz mancher Widerstände eine Zivilgesellschaft zu entwickeln, im Stadtrat Transparenz zu schaffen.

Zurück zu Rose Ausländer [1901 – 1988 ]

„Leben im Wort“ charakterisiert diese Lyrikerin vermutlich am besten. Immer wieder thematisiert das Schreckliche der Verfolgung und Vertreibung und gleichzeitig die Hoffnung.

geb. 1901 in Czernowitz in einer jüdischen Familie geboren, stark geprägt von dieser Stadt, von der Landschaft der Bukowina, mit Paul Celan befreundet.

Rose Ausländer lebte in den 1920er und 1930er Jahren vorübergehend in den USA, kehrte 1939 !! wegen ihrer kranken Mutter nach Czernowitz zurück, arbeitete als Krankenschwester in einer Augenklinik, gelangte nach 1945 erneut in die USA, lebte kurzzeitig in Wien, und kam 1965 nach Düsseldorf, dort starb sie vereinsamt 1988.

Czernowitz vor dem Zweiten Weltkrieg

– das vollständige Gedicht:

Friedliche Hügelstadt
Von Buchenwäldern umschlossen

Weiden entlang dem Pruth
Flösse und Schwimmer

Maifliederfülle

Vier Sprachen verständigen sich – verwöhnen die Luft
Bis Bomben fielen – atmete glücklich die Stadt

Mutterland

Mein Vaterland ist tot
Sie haben es begraben
Im Feuer

Ich lebe
In meinem Mutterland
Wort

Gemeinsam

Vergesset nicht
Freunde
wir reisen gemeinsam
besteigen Berge
pflücken Himbeeren
lassen uns tragen
von den vier Winden

Vergesset nicht
es ist unsre
gemeinsame Welt
die ungeteilte
ach die geteilte

die uns aufblühen lässt
die uns vernichtet
diese zerrissene
ungeteilte Erde
auf der wir
gemeinsam reisen

(aus: R.A.: Ich höre das Herz des Oleanders. Gedichte 1977-1979, 1984)