Aufruf

Das Gedenken an die Reichspogromnacht am 9.11.1938 findet in diesem Jahr statt vor dem Hintergrund eines öffentlich anwachsenden Antisemitismus, von lauter werdenden Verschwörungsmythen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie und immer größer werdendem Flüchtlingselend an den europäischen Außengrenzen und anderswo. Die zunehmenden antisemitischen und fremdenfeindlichen Äußerungen vergiften das gesellschaftliche und politische Klima und führen zu einer unübersehbaren Polarisierung. Die Gewalttaten nehmen kein Ende – am 4. Oktober dieses Jahres wurde ein jüdischer Student vor der Synagoge Hohe Weide in Hamburg mit einem Spaten krankenhausreif geschlagen.

Auch in diesem Jahr wollen wir auf einer Gedenkveranstaltung zur Pogromnacht 1938 bekunden: Wir vergessen nicht, was Juden und Jüdinnen – auch Worpsweder*innen – angetan wurde. Wir geden­ken der in Worpswede aufgewachsenen Schwestern Johanne Sanders (geb Abraham), ermordet in Treblinka, Sophie Schwabe und Merry Leeser, umgekommen in Theresienstadt. Wir gedenken ihrer Schwägerin Rosa Abraham, ermordet in Treblinka, und aller vertriebenen Worpsweder Jüdinnen und Juden, die im Exil die Nazizeit überlebt haben. Wir gedenken der Ermordeten, Verfolgten, Entrechteten, ihres Eigentums Beraubten, ins Exil Gezwungenen.

Der Judenhass, der zu diesen Untaten führte, war nach 1945 nie aus unserer Gesellschaft ver­schwunden. Heute äußert er sich in einer Flut von Hassbotschaften, Gewalt-ankündigungen und altbekannten antisemiti­schen Stereotypen im Internet, in Verschwörungsmythen bei Demonstrationen gegen die Prävention von Covid-19, im Drangsalieren und in Gewalttaten gegen Jüdinnen und Juden auf Straßen und Schulhöfen. „Jude“ ist zum generalisierten Schimpfwort geworden, selbst der bayrische Ministerpräsident wird im Internet bedroht mit: „Du stinkende Judensau gehörst vergast.“

Antisemitismus und Rassismus gehen bei völkisch-nationalistisch Gesinnten Hand in Hand. Bereits Ende September wurden vom Verfassungsschutz für das zweite Halb­jahr 2020 allein in Niedersachsen mehr als 800 rechtsmotivierte Straftaten registriert, darunter 28 Gewalttaten. Für den Verfassungsschutzpräsidenten Thomas Haldenwang ist der Rechtsextremismus aktuell die größte Gefahr für die Demokratie in Deutschland.

Die Mahnung von Primo Levi: „Es ist geschehen und folglich kann es wieder geschehen“ ist für uns von erschreckender Aktualität. Das unfassbare Leiden, das wir Deutschen den deutschen und europäischen Juden zugefügt haben, fordert von den heute Lebenden, immer wieder dar­an zu erinnern und die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass es sich nie wiederholt. Und wie die Jahre zuvor wollen wir mit unserem Gedenken zeigen: Wir lassen uns nicht durch eine Minderheit von Gewalt­tätern und Wirrköpfen verängstigen. Auch in Zeiten großer Verunsicherung durch die herrschende Pandemie stehen wir ein für ein friedliches Zusammenleben aller Menschen in Worpswede und im ganzen Land – und in einem friedliebenden Europa.

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