Gedenken am 9. November 2022 zum 84. Jahrestag der Reichspogromnacht 1938

Begrüßung und Einführung

Katharina Hanstein-Moldenhauer

Im Namen unserer Initiative NIE WIEDER – Erinnern für die Zukunft – Gemeinsam gegen Rechts möchte ich Euch und Sie alle herzlich begrüßen. Mein Name ist Katharina Hanstein-Moldenhauer, ich soll durch unsere Gedenkveranstaltung hier und in der Ratsdiele führen. Nach mir wird Pastor Contag die Ge­denkrede halten, zum Abschluss hier auf dem Rosa-Abraham-Platz wird Ian Bild das Kaddisch sprechen. Gemeinsam gehen wir dann zu einer ca. einstündigen Lesung in die Ratsdiele.

Jedes Jahr von Neuem erinnern wir auf diesem Platz an das Novemberpogrom 1938. Der 9. No­vember 1938, vor nunmehr 84 Jahren, begann als ein ganz normaler, grauer Novembertag. Er en­dete mit einem Verbrechen, das Juristen nach 1945 als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ de­finierten.

„Hatten die Behörden und ihre willigen ausführenden Kräfte bis … (zum Novemberpogrom) die Juden durch Bedrohung, Demütigung, Entzug ihrer Lebensgrundlage und Ausbeutung zur Auswanderung gedrängt, so ging es…(danach) um die Vernichtung jüdischen Lebens, erst in Deutschland und dann in jedem Land, in das die deutschen Truppen, gefolgt von Gestapo und SS, einmarschierten.“[1]

1000 brennende Synagogen, 7000 zerstörte Einrichtungen, Hunderte verwüstete Privatwohnun­gen, über 90 Ermordete und  30.000 in Konzentrationslager verschleppte jüdische Männer und Ju­gendliche – die Reichspo­gromnacht des 9. November 1938 war ein Wendepunkt in der deutsch-jü­dischen Geschichte. Das Novemberpogrom 1938 markiert das Ende einer von Juden während des ganzen Zeitalters der Emanzipation gehegten Hoffnung darauf, gleichberechtigter und willkomme­ner Teil der deutschen Gesellschaft zu werden.[2]

Warum überhaupt erinnern wir mehrmals im Jahr an die Verbrechen der Nazis und geden­ken ihrer Opfer – gerade in dieser Zeit, in der der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine in Europa tausende Opfer bringt und ebenso die Kriege in anderen Teilen der Welt, in der Millionen Men­schen auf der Flucht  und in der so viele Krisen zu bewältigen sind? Aber auch in einer Zeit, in der Menschen, vor allem Frauen, sich wehren gegen jahrzehntelange Unterdrückung wie seit  Wochen im Iran, wo bereits 14.000 Menschen in den letzten sieben Wochen in Foltergefängnissen und auf den Straßen gequält, vergewaltigt, ermordet werden, wo jede Rechtsstaatlichkeit ausser Kraft gesetzt wird, aber die Widerständler*innen mutig immer wei­ter ihr Leben aufs Spiel setzen, sich vom Terrorregime der Mullahs und ihren 150.000 sogen. Re­volutionswächtern und anderen Milizen nicht vom Kampf um Freiheit und ein menschenwürdiges Leben abhalten lassen. Ein Regime, dass sich zum Ziel gesetzt hat, den jüdischen Staat Israel zu vernichten, der seit 1948, egal welche Regierung an der Macht war und aktuell ist, die „existentielle Lebensversicherung“[3] – wie es der Historiker Michael Wolffsohn formulierte – für die Jüdinnen und Juden der ganzen Welt darstellt.

Die alttestamentarische Aufforderung „Sachor“ bedeutet: „Erinnere Dich“ und Elie Wiesel, der 1945 aus dem KZ Buchenwald befreite jüdische Schriftsteller, sagte einmal: “Jude sein, heißt, sich zu erinnern“ – an 3000 Jahre erfahrenes Leid[4], das in der Shoah mit dem Versuch der Vernichtung eines ganzen Volkes seinen Höhepunkt erfuhr und in alltäglicher Diskriminierung und wachsender antisemitischer Gewalttätigkeit weitergeht.

Und die Nichtjuden – als Nachkommen von Täterstaat und Tätervolk – sollten sich über Erinnern und Gedenken hinwegsetzen?

Für uns und wohl alle, die hier stehen, sind Gedenken und Erinnern nicht Teil einer oft als rituali­siert und erstarrt umstrittenen sogen. Erinnerungskultur. Für uns gibt es keinen „Schlussstrich“ un­ter die fürchterlichen Verbrechen der Nazis und ihrer Anhänger*innen in Deutschland,  Europa und der Sowjetunion. Erinnern und Gedenken gehören für uns zum historischen Bewusstsein und zu aktivem, lebendigen politischen Handeln. Wir möchten damit die Ermordeten und die Überleben­den ehren und alle die, die gegen das mörderische Naziregime aufbegehrt haben. Lukas Welz, der Vorsitzende von AMCHA Deutschland, eine Unterstützungsorganisation für Shoa-Überlebende in Israel, für die wir seit Jahren und auch heute wieder Spenden sammeln, formulierte es einmal so: „Nichtjüdische Erinnerungsarbeit wirkt vor allem, indem sie eine Gemeinschaft der Solidarischen bildet. Das ist ganz wichtig auch für die Überlebenden, die damit Anerkennung erfahren.“ Und: „Die Bearbeitung oft schwerster Trau­mata des Holocaust ist eine Gegenwartsfrage und wird es bleiben, zumal diese innerhalb ihrer Fa­milien oft über Generationen hinweg spürbar bleiben.“[5] Wir stehen hier auch in Solidarität mit den Nachkommen der Opfer des Faschismus. Und wir stehen hier in Solidarität mit allen Jüdinnen und Juden in Deutschland, die die Träger eines lebendigen Judentums sind und für die Deutschland ihre Heimat ist – trotz unserer furchtbaren Vergangenheit und trotz einer bedrohlichen Gegenwart.

Mit dem Erinnern und Gedenken übernehmen wir, die wir keine Schuld an den Novemberpogro­men, den Vernichtungslagern, dem Krieg haben, als Teil der Zivilgesellschaft Verantwortung dafür, dass aus dem NIE WIEDER kein „Schon wieder“ oder gar „Immer wieder“ wird. Und wir wollen da­mit eine Mahnung an alle aussprechen, die in diesem Staat in der Exekutive, der Legislative und der Judikative Funktionen ausüben: Lasst Euren Reden zum Gedenken und Erinnern Taten folgen! Der Satz „Antisemitismus hat keinen Platz in unserer Gesellschaft“ ist leider kei­ne Beschreibung unserer Gegenwart, sondern kann nur die Aufforderung sein, dem Antisemitis­mus mit allen zur Verfügung stehenden rechtsstaatlichen Mitteln den Platz wegzunehmen, den er sich immer stärker erobert. Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Homophobie sind in der Öffent­lichkeit nicht einfach Meinungen, sie landen umgehend in Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit. Wir erinnern hier nur an die schlimmsten Attentate der letzten paar Jahre – die Morde in Hanau und Halle. Und jetzt wieder an die brennenden Unterkünfte für Geflüchtete, den alltäglich geworde­nen Antisemitismus, wie er sich u.a. in den letzten Schändungen in der Gedenkstätte Buchenwald und anderswo zeigt, aber auch in der Bedrohung und Gewalt gegenüber Juden und Jüdinnen auf der Straße, in der Schule, im Netz.

Erinnern für die Zukunft heißt es im Namen unserer Initiative – ich möchte ergänzen: Erinnern für die Gestaltung der Gegenwart und zum Erhalt unserer Demokratie. Und weiter in unserem Titel: Ge­meinsam gegen Rechts.

Durch die individuellen und gesellschaftlichen Folgen der anhaltenden Pandemie, des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, des menschengemachten Klimawandels leben wir in einer be­drohlichen, von Krisen geprägten Zeit.

Und fast erwartungsgemäß hat sich in dieser Zeit die rechtsextremistische AfD mit ihrem Anteil an Wählerstimmen bei der niedersächsischen Landtagswahl nahezu verdoppelt  (übrigens nur in unserem Wahlkreis Osterholz nicht), eine Partei, die aufgrund ihres rechtsextremistischen Charakters als Verdachtsfall unter Beobachtung des Verfassungsschutzes steht – dieser Partei nutzen die Ängste vor Krieg und Kälte, die Krisen, der alltägliche Antisemitismus und Ras­sismus, um ihr Programm mehrheitsfähig zu machen – ein Programm der weiteren gesellschaftlichen Spaltung, der Diskriminierung von Min­derheiten und Andersdenkenden, einer nationalistischen Abschottung, eines Rückfalls zu fossilen Energien aus Russland und der Entsolidarisierung mit der Ukraine. Andere rechtsextreme Gruppierungen und die Querdenken-Bewegung sind dabei die außerparla­mentarischen Steigbügelhalter auf der Straße und im Netz.

Der Soziologe Andreas Kemper, dessen profunde Recherchen zu Björn Höcke zur Überwachung der AfD durch den Verfassungsschutz beitrugen, schätzt die Situation so ein: „Höcke, der den faschistischen Flügel in der AfD und zugleich die Partei als stärkste Kraft in Thüringen anführt, propagierte bereits vor über zehn Jahren einen rechtsextremen Ansatz, der heute mehr und mehr zu greifen scheint: die mit einer Energiekrise einhergehende Destabilisierung der Gesellschaft.
… Mit der AfD bereitet Höcke ’seinen‘ Flügel nun seit fast zehn Jahren auf den Umsturz vor.  …  Es ist zu befürchten, dass Inflation und explodierende Energiepreise die vom faschisti­schen Flügel forcierte Kampagne ‚Wutwinter‘ 2022/23 stärken. Zwar wird es nicht zu einen Um­sturz kommen, aber der AfD könnten wie 2015 wieder Wähler*in­nen zulaufen. Und es ist mit … Terroranschlägen in Abhängig­keit der Verbreitung einer Hass-Stimmung (zu rechnen). Mit der Lautstärke des faschistischen Umsturzge­schreis steigt die Wahrscheinlichkeit faschistischer Anschläge.“[6]

Dafür sollen auch die Veranstaltungen und Publikationen, die staatlich geförderten Stipendien der Desiderius-Erasmus-Stiftung sorgen, für die die AfD in Karlsruhe 70 Mio. € von der Regierung einklagt. Das im Koalitionsvertrag versprochene Gesetz, das diese Finanzierung verhindern könnte, steht immer noch aus. Wie gesagt: Taten anstatt Sonntagsreden…

Diejenigen, die die AfD gewählt haben, diejenigen, die sich rechtsextremen Gruppierungen an­schließen, diejenigen, die ihrer Verschwörungsblase im Netz und auf der Straße Glauben schen­ken, mögen sich über Wahlerfolge und Terroranschläge freuen. Wir haben aus der Geschichte gelernt: Rechtsextremistische, nazistische Politik ist eine Politik der Spaltung, der Denunzia­tion, des Benutzens und Aushöhlens demokratischer Prinzipien, eine Politik von Gewalt und Unterdrü­ckung, von Vernichtung und Zerstörung, eine gegen das eigene Land und seine Bevölkerung ge­richtete Politik der Enthumanisierung.

Die im juristischen Sinne für das Novemberpogrom Verantwortlichen wurden nach 1945 nach lan­gen Ermittlungen zu vergleichsweise geringen Strafen verurteilt. Ihre Fälle sind ad acta gelegt, je­doch nicht der Mechanismus, der zur Pogromnacht und schließlich zur Shoah führte. Die jüdi­sche Minderheit in Deutschland wurde seit 1918 zum Sündenbock für die wirtschaftliche und politi­sche Krise gemacht. Vor allem von den nationalistischen und völkischen Parteien wurde der Bevöl­kerung suggeriert, dass das Verschwinden der Juden alle Probleme lösen würde.

Solange Juden und Jüdinnen diskriminiert, bedroht, geschlagen werden, sind Gedenkveranstal­tungen wie die heutige unverzichtbar. Wir können das Geschehene nicht ungeschehen ma­chen, wir Nachgeborenen tragen auch keine Schuld, aber wir haben die Aufgabe und Verantwor­tung, dazu beizutragen, dass sich Ge­schichte nicht unheilvoll wiederholt[7], wir haben die Aufgabe, nicht zu schweigen.

Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit!


Gedenkrede

Pastor Jörn Contag

Wir gedenken der verfolgten und ermordeten Worpsweder Jüdinnen und Juden: Rosa Abraham und Johanne Sanders, geb. Abraham – beide ermordet 1942 in Treb­linka – und der vertriebenen Worpsweder Jüdinnen und Juden, die im Exil die Nazizeit überlebt haben: Walter Steinberg, Betty und Käthi Meyer, Erich Schargorodsky, und Adolph und Martha Goldberg sowie Leopold Sinasohn, die im Kreis Oster­holz ermordet wurden.

Wir gedenken als diejenigen, die oft genug das Unfassbare und Unbegreifliche betonen, das sich am 9.November 1938 und den Folgejahren in Deutschland und von Deutschen ausgehend ereignet hat. Unbegreiflich, dass zum Beispiel Rosa Abraham – ausgeplündert, verarmt und ohne Hoffnung – am 18. März 1942 mit wenigen verbliebenen Habseligkeiten nach Bremen zog und im selben Jahr in Treblinka ermordet wurde.

Zehn Jahre vor der Reichspogromnacht hätte sich wohl kaum jemand in Deutschland die Schändung jüdischer Gotteshäuser, die Plünderung jüdischer Geschäfte und die vollkommene Entrechtung und letztlich die Vernichtung der jüdischen Mitmenschen vorstellen können.

Denn die Weimarer Republik war geprägt von der Gleichberechtigung der Jüdinnen und Juden: Sie wurden zu Funktionen im öffentlichen Dienst und an Universitäten berufen, Juden prägten viele Bereiche der Kultur, Philosophie und Kunst. Man sprach gar von einer „jüdischen Renaissance“. Zugleich erstarkte jedoch der Antisemitismus. Die Ernennung des Juden Walter Rathenau zum Außenminister Deutschlands im Jahre 1922 und seine Ermordung durch antisemitische Nationalisten wenige Monate später zeigten deutlich sowohl den Erfolg der Juden in dieser Zeit als auch die schwere Bedrohung ihrer Zukunft. Was ist in Deutschland geschehen, dass der Antisemitismus sich so enthemmt und mörderisch äußern konnte?

Unser Moralempfinden und unser Selbstbild lassen es nicht zu, eine Verrohung und Entmenschlichung für möglich zu erachten, wie sie in Deutschland um sich gegriffen hat. „Unfassbar“ – so hört man, sei es gewesen, was wir erinnern. Und doch war es möglich: aus Bürgerinnen und Bürgern wurden „Volksschädlinge“, aus Nachbarn wurden „jüdische Parasiten“ und „Judenratten“.

Solchem Erschrecken über das Unbegreifliche kann man unterschiedlich begegnen: einerseits kann man sich für unzuständig empfinden, also das vor 84 Jahren Geschehene als bloße unbegreifliche Vergangenheit erklären – dann sind Gedenktage wie heute entbehrlich. Oder aber man versucht, dem Unbegreiflichen nahezukommen, versucht das Unverstehbare zu verstehen, damit wir sensibel bleiben und der Verrohung und Entmenschlichung unserer Zeit etwas entgegensetzen, wo es nötig ist.

Noch 1929 kam die NSDAP als Protestpartei bei der Landtagswahl in Thüringen auf 11,3 % der Stimmen, in Sachsen ein Jahr danach auf 14,3%. Das Schicksalsjahr, in dem Deutschland seine Demokratie nicht verteidigte und sich der Unmoral ergab, war das Jahr 1932. Ein bereits zerbrechliches gesellschaftliches Gefüge zerbrach gänzlich unter den Auswirkungen der Wirtschaftskrise. Die NSDAP konnte sich als Protestpartei landesweit profilieren.

Der Direktor des Institutes für Zeitgeschichte München-Berlin, Andreas Wirsching, kommentiert:

Insofern zeigt uns das Jahr 1932, welche überragende Bedeutung gerade in Krisenzeiten dem politischen Engagement von Demokraten zukommt. Zu den Lehren des Jahres gehört die Notwendigkeit, jeglichem ideologischen Freund-Feind-Denken sowie der daraus entspringenden politischen Gewalt und ihrer Propaganda entschieden entgegenzutreten. Nur dann lässt sich der rechtsstaatliche Rahmen bewahren, der erforderlich ist, um die Konflikte auszutragen, die in einer pluralistischen Demokratie legitim und unvermeidbar sind. Schließlich ist das Jahr 1932 auch eine Mahnung, wie rasch und unerwartet die politische Freiheit verspielt werden kann. Auch heute gilt es angesichts der Verschiebungen des öffentlich Sagbaren … wachsam zu sein …“ (Andreas Wirsching, Schicksalsjahr 1932, in: ZEITGeschichte Weimars Ende, S.20)

Die Wirtschaftskrise und wie die NSDAP als Protestpartei hervortrat, sind die Wurzel dessen, was wir heute erinnern: ein moralisch verirrtes, die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit verloren habendes Land.

Die Demokratie, den Rechtsstaat und die Moral zu schützen, das muss Inhalt heutiger Gedenktage sein. Nie wieder dürfen wir den Feinden der Demokratie und des freien politischen Austausches das Feld überlassen. Zumal in Krisenzeiten gilt es wachsam zu sein.

Die Aufnahme von Flüchtlingen seit 2015, die Coronapandemie ab 2020 und nun der Angriffskrieg auf die Ukraine mit seinen wirtschaftlichen Folgen sind gesellschaftliche Herausforderungen, die als Krisen empfunden werden. Krisen setzen dem gesellschaftlichen Zusammenhalt zu. Eine ARD-Umfrage hat jüngst ergeben, dass zwei Drittel der Befragten den gesellschaftlichen Zusammenhalt als gefährdet ansehen. Nichts kommt den Zersetzern des gesellschaftlichen Miteinanders so gelegen wie Krisen.

Krisen sind der Nährboden für Extreme. Nur ein Beispiel: Bei einer Veranstaltung mit dem Titel „Ein Winter ohne Gas“ ging es um die Energiekrise und deren soziale Folgen. Zur Einschätzung eines Redners, dass die Lage dramatisch werde, sagte der AfD-Politiker Harald Weyel: „Man muss sagen: „Hoffentlich. Wenn’s nicht dramatisch genug wird, dann geht’s so weiter wie immer.“ Krisen und die daraus resultierende Verunsicherung und gesellschaftliche Spaltung sind der Nährboden derer, die Probleme nicht lösen, sondern das Gemeinwesen schlicht zerstören wollen.

Das wird auch ganz offen gesagt: Der Vordenker der Rechtsextremen, Jörg Kubitschek, schrieb schon 2006: „Unser Ziel ist nicht die Beteiligung am Diskurs, sondern sein Ende als Konsensform, nicht ein Mitreden, sondern eine andere Sprache, nicht der Stehplatz im Salon, sondern die Beendigung der Party.”

Dazu bedient sich die Neue Rechte besonders der sozialen Medien. Es geht darum, neue Influencer aufzubauen und etablierte Influencer zu überzeugen, um letztlich eine Verschiebung des gesellschaftlichen Klimas zu erreichen. Bei der Diskussion über gesellschaftliche Probleme werden Überlegungen zugunsten einfacher Gut-Böse-Schemata, Schuldzuweisungen und pauschaler Feindbilder ausgeblendet: Die „Wir“-Gruppe sind stets die Guten, die „Anderen“ stellen eine potenzielle Bedrohung für das Gemeinwohl dar. So werden Politiker als „Volksverräter“ gebrandmarkt, und die freien Medien gelten als „Lügenpresse“ und sind Teil einer Verschwörung.

Ein Teil der Bevölkerung wird als „Volk“ vereinnahmt, andere Teile hingegen werden als nicht-dazugehörig ausgegrenzt. Als „die Anderen“ können zum Beispiel Juden, Muslime, Roma und Sinti, Homosexuelle, Obdachlose, Flüchtlinge oder Parteien und Politikerinnen gelten. Sie sind in den Verschwörungsmythen auch die Schuldigen, die es wie auch immer zu bekämpfen gilt.

In ganz Europa sind solche rechtsextremen Krisendemagogen am Werk. Die französische „Nationale Sammlungsbewegung“ (RN), die italienische „Lega“, die niederländische „Partei für die Freiheit“ und Österreichs „FPÖ“, die belgische „Vlaams Belang“, die litauische „Ordnung und Gerechtigkeit“, die „Dänische Volkspartei“, die „Wahren Finnen“ und andere mehr.

Jetzt, in der Krisenzeit, stehen wir in Europa vor einer Herausforderung. Aber bei alldem, was erinnern mag an den Populismus der Weimarer Republik, dem die Demokratie damals erlegen ist, gibt es doch wesentliche Unterschiede: Wir haben eine Demokratie, die – anders als damals – letztlich auf Konsens angelegt ist, wir sind ein reiches Land, das – anders als damals – Krisen bewältigen kann. Und wir haben Tage wie heute, die uns mahnen, den Rechtsstaat und die Menschlichkeit nicht aus der Hand zu geben.

Ich danke Ihnen für Ihr Zuhören.

Exif_JPEG_420

Zum Abschluss sprach Ian Bild das Kaddisch.

Im Anschluss an die Gedenkfeier folgte eine Lesung aus dem Buch „Der Reisende“ von von Ulrich Alexander Boschwitz in Kooperation mit dem Literarischen Quartier Bremen.

[1]     Jüdische Allgemeine vom 27.10.22

[2]     https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/antisemitismus/grussbotschaften-zu-den-aktionswochen-gegen-antisemitismus-2022/

[3]     Der Historiker Michael Wolffsohn, in: Jüdische Allgemeine vom 20.1.22

[4]     Ebd.

[5]     https://www.bundesregierung.de/breg-de/bundesregierung/bundeskanzleramt/-die-shoah-ist-nicht-geschichte-sondern-teil-der-gegenwart–1547728

[6]      Andreas Kemper, AfDNotizen: Wärmestrom, September 2022

[7]     Vgl. https://www.jag-emden.de/schule/faecher/geschichte-g/reden-zum-gedenktag-9-november