Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.
Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz. (1966)
Wie leben die Lehren der Nazis zur Kindererziehung in unserer Gesellschaft weiter? Hitler äußerte sich zur Kindererziehung folgendermaßen: „Er (der Staat) hat seine Erziehungsarbeit so einzuteilen, daß die jungen Körper schon in ihrer frühesten Kindheit zweckentsprechend behandelt werden und die notwendige Stählung für das spätere Leben erhalten…“. Und weiter: „Jedes Kind, das (die Frau) zur Welt bringt, ist eine Schlacht, die sie besteht für das Sein oder Nichtsein ihres Volkes“.
Die Lungenärztin und fünffache Mutter Johanna Haarer veröffentlichte 1934 den Ratgeber zur Säuglingspflege „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“. In diesem Buch setzt sie die Prinzipien Hitlers zur Kindererziehung in praktische Anweisungen um. Die Erziehungsideale im Nationalsozialismus gingen über die auch im Kaiserreich praktizierte autoritäre, patriarchalische Erziehung noch hinaus. Den Kindern sollte jede „Gefühlsduselei“ ausgetrieben werden. Hierzu wurde das Bindungsbedürfnis der Kinder unterdrückt, jede Entwicklung von Empathie durch Bindungslosigkeit, letztlich Bindungsunfähigkeit unterbunden.
Johanna Haarer schreibt: „Von vorneherein mache es sich die ganze Familie zum Grundsatz, sich nie ohne Anlaß mit dem Kinde abzugeben.“ „Das Kind begreift unglaublich rasch, daß es nur zu schreien braucht, um eine mitleidige Seele herbeizurufen und Gegenstand solcher Fürsorge zu werden. Nach kurzer Zeit fordert es diese Beschäftigung mit ihm als ein Recht, gibt keine Ruhe mehr, bis es wieder getragen, gewiegt oder gefahren wird – und der kleine, aber unerbittliche Haustyrann ist fertig.“ „Nach wenigen Nächten, vielfach schon nach der ersten, hat das Kind begriffen, daß ihm sein Schreien nichts nützt und ist still.“ Manche Schlafratgeber vertreten noch heute ähnliche Positionen.
Das Kind wird hier nicht als soziales Wesen gesehen, das den Kontakt zu seiner Bezugsperson sucht und braucht, sondern als Feind, der mit niederen Trieben geboren wird. Wir müssen uns vorstellen, was das für die Säuglinge bedeutet. Weinen ist ihre einzige Möglichkeit, ihre Bedürfnisse mitzuteilen. Dazu gehört neben Nahrung auch unbedingt körperliche Nähe. Dadurch, dass niemand darauf reagiert, erfahren sie Verlassenheit und Todesangst. Durch eigene Erfahrungen und die Ergebnisse der Bindungsforschung wissen wir heute, welche Folgen eine solche distanzierte Erziehung für Kinder hat. Die erlebte Hilf- und Bindungslosigkeit führt zu fehlender Empathie.
Haarers Buch war ein Bestseller, es wurde bis 1945 fast 700.000mal verkauft. Es wurde bis 1987 in nur gering geänderter Fassung weiterverkauft, insgesamt noch einmal 600.000fach. Die Gesamtauflage erreichte damit mehr als eine Million Exemplare. So wirken diese bindungsfeindlichen Erziehungs-Grundsätze bis in die heutige Zeit fort. Vor allem in den 50er- und 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts galt es, Kinder bloß nicht zu verwöhnen oder zu verzärteln. Noch bis 1980 wurden Säuglinge ohne Narkose operiert, da man glaubte sie hätten kein bewusstes Schmerzempfinden.
Und diese Grundsätze erfahren eine gefährliche Renaissance. Aktuelle Erziehungsratgeber wollen uns glauben machen, Kinder könnten durch „übermäßige“ Fürsorge und Zuwendung verzogen werden. Das Bild des Kindes als potentieller „Tyrann“, das auch Johanna Haarer nutzte, ist so wieder gesellschaftsfähig geworden. Heute wissen wir: Man kann ein Kind nicht durch zu viel Liebe verwöhnen.
Auch die rechte Szene beschäftigt sich mit der Kindererziehung. Unter anderem hat Caroline Sommerfeld-Lethen, eine Philosophin und Publizistin aus dem Umfeld der Neuen Rechten und der Identitären Bewegung, einen Erziehungsratgeber namens „Wir erziehen: Zehn Grundsätze“ veröffentlicht. Liebe, Zugewandtheit oder Empathie sind nicht darunter.
Das faschistische Menschenbild sieht eine Person nicht als Individuum, sondern als Teil einer Volksgemeinschaft. Gerade die Empathielosigkeit als Folge der Bindungslosigkeit lässt sich aktuell vielfach in rechten Bewegungen beobachten. In Bezug auf die im Mittelmeer ertrinkenden und in menschenunwürdigen Camps untergebrachten Geflüchteten. Oder in dem utilitaristische Menschenbild, das die sogenannten „Corona-Leugner*innen“ und die Querdenken-Bewegung zeigen, wenn sie davon sprechen, dass doch „nur“ Alte und Vorerkrankte an einer Covid-Erkrankung versterben würden, die Maßnahmen zur Eingrenzung der Pandemie deswegen übertrieben seien.
Diese aktuellen Entwicklungen zeigen klar: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem dies kroch!“
- Wir stehen für eine empathische, zugewandte, mitfühlende Gesellschaft ein.
- Wir widersprechen denen, die Menschenleben auf ihre Nützlichkeit hin bewerten.
- Wir prüfen und hinterfragen unsere eigene Prägung und die unserer Eltern.
Nur mit dem Wissen um das kalte Erbe der nationalsozialistischen Erziehungsideale können wir unsere Kinder auf ihrem Weg zu selbstbewussten, empathisch-mitfühlenden und solidarischen Persönlichkeiten begleiten.
Almut Helvogt