Kapitulation – Sieg – Befreiung
Eine Stunde Null hat es nicht gegeben

Begrüßung und Moderation:
Dr. Almut Helvogt
Ich begrüße alle Anwesenden zu unserer Gedenkveranstaltung am 80. Jahrestag des Kriegsendes in Deutschland, dem Tag der Befreiung. Deutschland wurde an diesem Tag seiner Kapitulation durch den Sieg der Alliierten befreit von der Terrorherrschaft der Nationalsozialisten, von Krieg und Zerstörung.
Wir gedenken heute der Opfer des von Deutschland verursachten 2. Weltkrieges. Weltweit sind in diesem Krieg etwa 70 Millionen Menschen getötet worden.
Insgesamt 20 Millionen alliierte Soldaten starben, davon mit mehr als 6 Millionen Toten die meisten aus der Roten Armee. Hunderttausende amerikanische, britische und französische Soldaten sind umgekommen. In Polen kamen 6 Millionen Menschen um, das entspricht siebzehn Prozent der Vorkriegsbevölkerung.
Die Ukraine war einer der Hauptkriegsschauplätze. Insgesamt starben etwa 8 Millionen Ukrainer*innen, davon über 5 Millionen Zivilist*innen. Das entsprach etwa einem Viertel der Bevölkerung.
Besonders gedenken wollen wir der Opfer des deutschen Rassenwahns. In Vernichtungslagern und in den besetzten Gebieten wurden in der Shoah 6 Millionen Jüdinnen und Juden ermordet.
Wir denken an 3 Millionen ermordete sowjetische Kriegsgefangene, Sinti, Roma, Homosexuelle, Opfer der Euthanasieprogramme, Menschen aus dem alltäglichen und dem politischen Widerstand. Im nur wenige Kilometer von hier entfernten Lager Sandbostel starben wahrscheinlich mehr als 20.000 russische Kriegsgefangene an Hunger, Krankheiten oder durch die Gewalt der Bewacher.
Vor kurzem habe ich mit meiner Tochter die Gedenkstätte in Bergen-Belsen besucht. Dort entstand 1940 zunächst ein Lager für französische und belgische Kriegsgefangene, ab 1941 auch für sowjetische Kriegsgefangene. Für die große Zahl der Häftlinge standen nicht ausreichend Baracken zur Verfügung, so dass diese zum großen Teil auf freiem Feld in selbst errichteten Erdhöhlen und Hütten leben mussten. Allein zwischen Juli 1941 und April 1942 starben 14 000 sowjetische Kriegsgefangene vor allem an Hunger, Seuchen und Kälte.
Ab April 1943 wurde ein Teil des Lagers von der SS übernommen und als Konzentrationslager genutzt. Von insgesamt 120 000 Häftlingen aus fast allen Ländern Europas starben hier mehr als 52 000 Männer, Frauen und Kinder. Bei der Befreiung des Lagers fanden die britischen und kanadischen Soldaten 10.000 unbestattete Leichen auf dem Gelände vor. Trotz sofort eingeleiteter Rettungsmaßnahmen starben in den folgenden Wochen weitere 14.000 Befreite an den Folgen ihrer Haft.
All dieser Opfer, der Überlebenden und ihrer Angehörigen wollen wir heute gedenken.
Der 8. Mai 1945 stellte eine Zäsur in der deutschen Geschichte dar. Doch wie groß war der Umbruch in der deutschen Gesellschaft durch das Kriegsende wirklich? War es eine „Stunde Null“, nach der die Deutschen wundersam von überzeugten Nationalsozialist*innen zu Demokrat*innen transformierten? Wie wirken mögliche Kontinuitäten bis heute fort und beeinflussen die aktuellen Ereignisse? Darum soll es in den Beiträgen der heutigen Veranstaltung gehen.
Ein eindrückliches Zeitzeugnis der deutschen Gemütslage am Kriegsende stellen die Interviews von Saul K. Padover dar. Als unbewaffneter Offizier der Abteilung für Psychologische Kriegsführung interviewte er in den Jahren 1944/45 die deutsche Bevölkerung, um deren Stimmung und Lage zu verstehen, um zu wissen, was in den Köpfen der Besiegten vor sich ging.
Die Auskünfte zeugen von Mut und kollektiver Depression, von Selbstmitleid und unbelehrbarer Arroganz und zeigen, dass die Deutschen noch keine Zeit gefunden hatten, sich komplizierte Ausreden zurechtzulegen – die Zeit der Verdrängung war noch nicht gekommen.
Wir lesen Auszüge aus den Interviews, die in dem Buch „Lügendetektor“ veröffentlicht wurden, ausgewählt von Katharina Hanstein-Moldenhauer.
Anschließend wollen Dr. Bernd Moldenhauer und ich aufzeigen, welche Kontinuitäten und Brüche es nach dem Kriegsende beispielhaft in Justiz, Polizei, Erziehung und Medizin gegeben hat, sowohl personell als auch ideell.
Wir sammeln auch heute wieder Spenden, aber nicht wie sonst für Amcha, die nicht-staatliche Organisation in Israel, die den Überlebenden der Shoah sowie deren nachfolgendenden Generationen bei der Bewältigung ihrer Traumata zur Seite steht. Aus gegebenem Anlass sammeln wir stattdessen für den Gedenkort an die im Nationalsozialismus ermordeten Menschen aus Worpswede, den die Arbeitsgruppe „Aufarbeitung der NS-Zeit in Worpswede“ im Heimat- und Geschichtsverein Worpswede plant. Dazu wird Barbara Millies von der AG zu uns sprechen.
Zum Abschluss werde ich noch kurz über den Auftrag sprechen, den Veranstaltungen wie die heutige uns auf den Weg geben.
Wir beginnen mit einer Einführung zur Lesung von Katharina Hanstein-Moldenhauer.
Lesung
aus: Saul Padover, Lügendetektor. Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45
Einführung: Katharina Hanstein-Moldenhauer
Ich möchte kurz einige Bemerkungen voranschicken, bevor wir mit der Lesung aus dem Buch von Saul K. Padover: »Lügendetektor. Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45«, Frankfurt am Main 1999 beginnen. Der jüdische Emigrant Saul Padover kam als Oberstleutnant der US-Army in einer Spezialeinheit für psychologische Kriegsführung in den letzten Monaten vor Kriegsende nach Deutschland. Er „war bald mit besonderem Auftrag unterwegs: Er unterbreitete seinen Vorgesetzten den Vorschlag, samt einem kleinen Team mit der 1. Armee ins Rheinland vorzustoßen und möglichst viele Deutsche in den eroberten Dörfern und Städten zu vernehmen. Daraus sollte ein Stimmungs- und Situationsbild der Bevölkerung im Angesicht der Niederlage entstehen.“
Er war mit einem Kommandofahrzeug, zwei Jeeps, einem Funkwagen in Frankreich, Luxemburg, Belgien und im Rheinland unterwegs, überstand die Ardennen-Offensive, erlebte die Befreiung des KZ Buchenwald mit und war in Torgau beim Treffen der Amerikaner mit den Sowjetrussen dabei.
„Er sprach mit Deutschen, die in den Ruinen der Städte überlebt hatten, während SS, SA, Gestapo und Nazi-Bonzen das Weite suchten. Er interviewte Menschen aller Schichten: Bäuerinnen und BdM-Mädchen, Immobilienmakler, Lehrer, Anwälte, Arbeiter, Hausfrauen, Gewerkschafter und Zwangsarbeiter aus Rüstungsbetrieben.“
Sie hören einige Abschnitte aus den Befragungen. Es lesen Mitglieder unserer Initiative.

Kontinuitäten und Brüche
– Ein Bogen von 1945 bis heute –
Justiz und Polizei – Die Entnazifizierung als vertane Chance
Dr. Bernd Moldenhauer
Die Menschen, von denen wir eben gehört haben, standen inmitten von Trümmern und Leichen und zeigten in den letzten Tages des Krieges, dass sie bis auf ganz wenige Ausnahmen immer noch nicht begriffen hatten, was geschehen war und was sie aufgrund ihrer Überzeugungen mit angerichtet hatten. Das Ende des Krieges sollte ein Neuanfang sein. Das ist eine Bedeutung der „Stunde Null“, die 1945 geschlagen haben soll. Er hat stattgefunden, aber zunächst auf der Ebene der neuen demokratischen staatlichen Institutionen.
Eine „Stunde Null“ war 1945 in einem ganz anderen Sinne, nämlich im Sinne der Auslöschung der Erinnerungen an das, was man in den 12 Jahren zuvor geglaubt und getan hatte. Vor allem galt es, ohne Strafen für begangene Verbrechen weiterzuleben.
Es gab viel zu verdrängen und zu vergessen. Und es waren sehr viele, die am Vergessen interessiert waren. Die NSDAP hatten ca. 1 Million Mitglieder. Der Andrang war so groß, dass die Partei zeitweise einen Aufnahmestopp anordnete. Der SS gehörte eine Million Personen an. Zum Terrorapparat gehörten weiter eine Viertel Million, die im Sicherheitsamt des Reichsführers SS am Judenmord beteiligt waren, und mindestens 200.000 weitere Angehörigen von SA, Reichssicherheitshauptamt, Gestapo usw. Dabei sind noch nicht erwähnt die Polizei, die Gerichte, die Euthanasie – Ärzte.
Die Polizeibataillone 105 und 303
Die Beteiligung der Polizei an den nationalsozialistischen Verbrechen war ein gut gehütetes Geheimnis. Für Bremen haben Innensenator Mäurer und der ehemalige Polizeipräsident Holger Münch ein Buch über die Polizei zwischen 1933 und 1945 herausgegeben. Danach waren Bremer Polizisten zusammen mit Wehrmacht, SS und Gestapo an praktisch an Terroraktionen und Massakern in Österreich, den Niederlanden, in Skandinavien und im gesamten Osten beteiligt. Das gilt insbesondere für die Polizeibataillone 303 und 105, die durch Europa gezogen sind und sich am Judenmord beteiligt haben. Babi Jar war der schlimmste. Ein Bataillonsfotograf schreibt an sein Frau aus dem Osten: „Hier werden sämtliche Juden erschossen. Überall sind solche Aktionen im Gange. Gestern Nacht sind an diesem Ort 150 Juden erschossen, Männer, Frauen und Kinder. Alle umgelegt. Die Juden werden gänzlich ausgerottet. Mache Dir keine Gedanken darüber, es muss sein. Und dann …. nicht davon erzählen. Später mal.“
Zu diesem „später mal“ ist es nie gekommen. Alle Verfahren gegen die Mitglieder der Polizeibataillone wurden eingestellt.
Fast alle sind straflos davon gekommen. Statt dessen gab es die „Entnazifizierungsverfahren“ – ein Begriff, der ebenso unsinnig ist wie die „Wiedergutmachung“ der begangenen Verbrechen.
NS – Juristen nach dem Kriegsende
Wie es bei der „Entnazifizierung“ zugegangen ist, kann ein Beispiel aus unserer Region zeigen. Die NS-Regierung hat sog. „Sondergerichtshöfe“ eingerichtet, deren Aufgabe war, Gesinnungsjustiz zu üben an alle, die staatsfeindlicher Überzeugungen verdächtig waren. Am Bremer Sondergericht waren 14 Richter und Staatsanwälte tätig. Es handelte sich in 12 von 14 Fällen um promovierte Juristen. Es war nicht Mangel an Bildung und Einsicht, der sie zu Nazi-Juristen werden ließ.
Die Entnazifizierung ergab, dass in zwei Fällen das Verfahren eingestellt worden ist, bzw. nicht stattgefunden hat und alle anderen als „Mitläufer“ eingestuft worden sind.
„Als Mitläufer werden Personen bezeichnet, die sich ohne eigene Überzeugung einer Gruppierung, Bewegung oder Strömung anschließen, ohne sich wirklich zu engagieren. Im Verfahren der Entnazifizierung war „Mitläufer“ …., „wer nur als nomineller Parteigänger an der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft teilgenommen oder sie unterstützt hat“, insbesondere „wer als Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen lediglich Mitgliedsbeiträge bezahlt, an Versammlungen, deren Besuch obligatorisch war, teilgenommen oder unbedeutende oder laufende Obliegenheiten, wie sie allen Mitgliedern vorgeschrieben waren, wahrgenommen hat“. Mögliche Sühnemaßnahmen gegen Mitläufer waren bestimmte Meldeauflagen und Aufenthaltsbeschränkungen, der Verlust des passiven Wahlrechts, bestimmte Einschränkungen der beruflichen Tätigkeit sowie die Auflage von Zahlungen an einen Wiedergutmachungsfonds.“ (wikipedia) – mit anderen Worten: praktisch keine.
Selbst Einschränkungen der beruflichen Tätigkeit gab es in den meisten Fällen nur vorübergehend. Danach waren die NS-Juristen wieder als Staatsanwälte, Oberstaatsanwälte usw. tätig. Das war das Personal, das den demokratischen Staat repräsentiert hat.
Vermutlich Schuldige und faktisch Verurteilte
Von den weit über 3 Millionen vermutlichen Tätern – zu vermuten, weil ihr Organisationszugehörigkeit und ihre Einsatzorte kaum eine andere Möglichkeit offen lassen – waren Ende 1946 „480 000 Deutsche in Erwartung justizieller Bearbeitung gefangen gehalten, weitere Dreieinhalbmillionen waren in Listen erfasst, um wegen erheblicher krimineller Beteiligung angeklagt zu werden.“ Fast 40.000 wurden als „schwere Kriegsverbrecher genannt, die als Massenmörder zu verfolgen seien.“ (Angaben aus Achim Doerfer, Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen, Köln 2021, S.111).
Das bezeichnet in etwa den Umfang, den eine juristische Aufarbeitung der Verbrechen der NS-Zeit erfordert hätte.Wie viele sind rechtskräftig verurteilt worden? 6500 bis maximal 7000 Täter.
Meinungsbild der Bevölkerung in den Nachkriegsjahren
Ein ähnlich trübes Bild bietet der Blick auf Überzeugungen eines großen Teils der Bevölkerung nach 1945.
Die Erfahrung der nationalsozialistischen Verbrechen hat nach dem Krieg an den Einstellungen der Deutschen wenig geändert, auch als sie nicht mehr sagen konnten, sie hätten aus Angst vor politischen Repressionen nicht anders gekonnt. Im Jahr 1951 meinten 42 % der Befragten, im 20. Jahrhundert sei es ihnen in den Jahren von 1933 bis 1938 am besten gegangen. Das ist eine interessante Unterscheidung:
In den sechs Jahren seit 1933 haben die Nazis Krieg gegen die eigene Bevölkerung geführt.
Das waren die Jahre, in denen alle Institutionen gleichgeschaltet wurden, das KZ-System alle Orte erreichte und die politische Opposition, die Juden und Tausende andere Menschen verfolgt wurden.
Das waren also für die Nicht – Verfolgten ihre schönsten Jahre. Die nachfolgenden sechs Jahre waren weniger angenehm. Das war der Krieg gegen alle europäischen Staaten, und da sind auch Millionen von Nazi-Anhängern gestorben. Das war natürlich eine historische Ungerechtigkeit.
In den 60ern meinten 30%, es sei besser, keine Juden im Land zu haben. Und heute sind noch 19% der Bevölkerung über alle Altersgruppen hinweg der Ansicht, die Shoa habe nicht stattgefunden. 55% fordern einen „Schlussstrich“ unter die NS-Vergangenheit.
Der Antisemitismus war nur zeitweilig leiser geworden. Der Rückblick zeigt, dass weder das Wissen über Krieg und Verbrechen noch die Erfahrung von 80 Jahren Frieden ein Drittel der Wahlbevölkerung abhalten können, eine gesichert rechtsextreme Partei zu wählen.
Wir können angesichts dessen nur darauf setzen, dass die demokratischen Institutionen nach nunmehr 76 Jahren weiter halten. Mehrheiten können faschistische Parteien und Bewegungen nur mit Hilfe demokratischer Parteien erreichen. Wir können nur hoffen, dass alle demokratischen Parteien begriffen haben, welche Koalitionen geboten sind und welche ohne Wenn und Aber ausgeschlossen werden müssen.
Und es sind auch andere Traditionen entstanden. Es gibt heute organisierte kritische Polizisten und kritische Juristen, nicht nur rechtsradikale Chatgroups. Die Demokratie lebt von der Erhaltung der Verfassung, der Rechtsstaatlichkeit ihrer Institutionen und vor allem von Demokraten und Demokratinnen.
Erziehung und Medizin: Kontinuitäten und Brüche
Almut Helvogt
Unter der Herrschaft der Nationalsozialisten wurden alle Lebensbereiche in die sog. „Gleichschaltung“ einbezogen, auch Erziehung und Medizin. Lassen Sie mich zunächst einen Aspekt der Erziehung beleuchten:
Eine wichtige Rolle in der Ausrichtung der Kindererziehung in der Nazizeit spielte die Lungenärztin und fünffache Mutter Johanna Haarer. Sie veröffentlichte 1934 den Ratgeber zur Säuglingspflege „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“. In diesem Buch setzt sie die Prinzipien Hitlers zur Kindererziehung in praktische Anweisungen um. Der Zweck dieser Erziehung sollte es sein, folgsame und nützliche Bürger heranzuziehen, die der nationalsozialistischen Ideologie dienen.
Den Kindern sollte jede „Gefühlsduselei“ ausgetrieben werden. Hierzu wurde das Bindungsbedürfnis der Kinder unterdrückt, jede Entwicklung von Empathie durch Bindungslosigkeit, letztlich Bindungsunfähigkeit unterbunden.
Körperkontakt mit dem Kind sollte auf das Baden, Stillen und Wickeln des Kindes beschränkt werden. Das weinende Kind sollte auch nicht aus dem Bett genommen und beruhigt werden, es sollte lernen, dass ihm sein Schreien nichts nütze, damit es sich nicht zum „Haustyrann“ entwickelt.
Wir müssen uns vorstellen, was das für die Säuglinge bedeutet. Weinen ist ihre einzige Möglichkeit, ihre Bedürfnisse mitzuteilen. Dazu gehört neben Nahrung auch unbedingt körperliche Nähe. Dadurch, dass niemand darauf reagiert, erfahren sie Verlassenheit und Todesangst. Nach einiger Zeit lassen die Kinder das Weinen tatsächlich sein, wenn sie gelernt haben, dass niemand darauf reagiert. Sie geben auf.
Durch die Entwicklung der Bindungstheorie wissen wir heute, welche Folgen eine solche distanzierte Erziehung für Kinder hat. Aber auch schon zur Zeit der Veröffentlichung des Buches wusste die Fachwelt, dass die von Haarer propagierten Methoden einer gesunden Mutter-Kind-Beziehung abträglich waren. Die erlebte Hilflosigkeit führt zu einer fehlenden Empathie – ein Umstand, der für das verbrecherische Nazi-Regime gefügige, mitleidslose Untertanen hervorbringen sollte, denen das Mitgefühl für das Gegenüber bei ihren Verbrechen nicht im Wege stand. Außerdem konkurrierte eine intakte familiäre Gemeinschaft mit dem Gemeinschaftserlebnis in den Parteiorganisationen.
Haarers Buch war ein Bestseller, es wurde bis 1945 fast 700 Tausend mal verkauft und in den Mutterschulen des Reiches genutzt. In der Reichsmütterschulung trugen es die mehr als 3000 haupt- und ehrenamtlichen Lehrkräfte bis in den letzten Winkel des Landes. Bis zum April 1943 wurden die Kurse von 3 Millionen jungen Frauen besucht. In den Köpfen dieser Frauen wurde die Erziehungsideologie so in die Nachkriegszeit getragen. Denn das Buch stand auch nach Kriegsende noch in vielen Buchschränken des Landes. Tatsächlich wurde es bis 1987 in nur gering geänderter Fassung weiterverkauft, insgesamt noch einmal 600 tausendfach. Die Gesamtauflage erreichte damit mehr als eine Million Exemplare.
Diese bindungsfeindlichen Erziehungs-Grundsätze wurden also auch nach 1945 weitergetragen und wirken bis in die heutige Zeit fort. Vor allem in den 50er- und 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts galt es, Kinder bloß nicht zu verwöhnen oder zu verzärteln. Noch bis 1980 wurden Säuglinge ohne Narkose operiert, da man glaubte sie hätten kein bewusstes Schmerzempfinden.
Auch wenn die Erziehung in den Familien und Institutionen sich in den letzten 80 Jahren glücklicherweise deutlich weiterentwickelt hat und viel bindungsorientierter, den Bedürfnissen der Kinder zugewandter geworden ist, ist das Gedankengut der Johanna Haarer leider noch nicht vollständig aus ihr verschwunden.
Aktuellere Bücher wie „Jedes Kind kann schlafen lernen“, „Warum unsere Kinder Tyrannen werden: Oder: Die Abschaffung der Kindheit.“ und „Lob der Disziplin“ sind Bestseller. Bücher, die uns glauben machen wollen, Kinder könnten durch übermäßige Fürsorge und Zuwendung „verzogen“ werden. Das Bild des Kindes als potentiellem „Tyrann“, das auch Johanna Haarer nutzte, ist weiterhin gesellschaftsfähig.
Und damit auch ein Menschenbild, das eine Person nicht als Individuum, sondern als Teil einer Volksgemeinschaft sieht. Gerade die Empathielosigkeit als Folge der Bindungslosigkeit lässt sich aktuell vielfach in rechten Bewegungen beobachten. Ein eindrückliches Beispiel sind die beunruhigenden Entwicklungen in der Migrationspolitik, die sich leider nicht nur auf die extreme Rechte beschränken. Die Mehrheit in Europa scheint sich einig in ihrer Mitleidlosigkeit in Bezug auf die im Mittelmeer ertrinkenden und in menschenunwürdigen Camps untergebrachten Geflüchteten. Hier ist menschliches Leben wieder weniger wert, wenn es nicht weiß und europäisch ist. Die Hilfsbedürftigen sollen abgewehrt werden, um eine „Überfremdung“ zu verhindern.
Nun zur Medizin: Meine Profession hatte einen erheblichen Anteil an der Entwicklung und Durchsetzung nationalsozialistischer Ideologie. Hitler fand unter den Medizinern zahlreiche willige Helfer zur Umsetzung der sozialdarwinistischen Konzepte seiner Gesundheitspolitik, die einen ethnisch homogenen, »gesunden Volkskörper« postulierte, von dem »kranke« Elemente durch »Selektion« zu trennen seien. Rund 45 Prozent der praktizierenden Ärzte traten der NSDAP bei; 26 Prozent gehörten der SA an, neun Prozent der SS.
Nach Kriegsende wurden insgesamt 23 Personen im Nürnberger Ärzteprozess angeklagt. Von den 23 Angeklagten wurden sieben zum Tode verurteilt, fünf zu lebenslangen Haftstrafen und vier zu Haftstrafen zwischen 10 und 20 Jahren. Sieben Angeklagte wurden freigesprochen.
Die Erwartung der Ärzteschaft an den Prozess war eindeutig. Zitat des damaligen Dekans der Medizinischen Fakultät der Universität Freiburg zum Ärzteprozess: Es sollte „ganz energisch klargelegt werden, dass doch nur eine äußerst beschränkte nat. soz. Clique sich hier die Finger verbrannt hat und dass vielmehr der deutsche Arzt im allgemeinen ebenso wie der deutsche Wissenschaftler nicht das geringste mit diesen Scheußlichkeiten zu tun hat“ Zitat Ende.
Doch viele andere, die sich Verbrechen schuldig gemacht hatten, kamen ungeschoren oder mit geringen Strafen davon. Oder sie entzogen sich der Gerichtsbarkeit durch Flucht oder Selbsttötung.
Professor Dr. Werner Heyde war seit 1936 SS-Mitglied und wurde 1939 Ordinarius der Nervenklinik am Universitätsklinikum Würzburg. Er war als Gutachter zur Beurteilung der „Erbgesundheit“ von KZ-Insassen tätig. Als Hitler 1939 einen Erlass zur „Euthanasie“ unterzeichnete, wurde er zum ärztlichen Leiter und Obergutachter der daraus folgenden Krankenmorde, die als Aktion T4 bekannt wurden. Die sogenannten Gutachten, die das Todesurteil für die Begutachteten bedeutete, bestanden aus der Prüfung eines einseitigen Meldebogens, den die ärztlichen Leiter von Heil- und Pflegeanstalten ausfüllen mussten. Teilweise hat ein Gutachter innerhalb weniger Tage Hunderte dieser Bögen „begutachtet“. Die Opfer wurden in Euthanasieanstalten transportiert und dort in Gaskammern oder durch Giftinjektionen ermordet. Zwischen 1939 und 1941 starben etwa 70.000 Menschen unter der Verantwortung von Werner Heyde.
Nach dem Krieg wurde Professor Heyde zunächst verhaftet, auf einem Transport gelang ihm jedoch die Flucht. Er setzte sich nach Schleswig-Holstein ab und nahm den Namen Fritz Sawade an. Unter diesem Namen gelang es ihm, wieder ärztlich tätig zu werden und als Gutachter für die Landesversicherungsanstalt gutes Geld zu verdienen. Dabei war seine wahre Identität zahlreichen Verantwortlichen in Medizin und Verwaltung bekannt. Die mitwissenden Ärzte haben ihn nicht an die Fahndungsbehörden verraten, weil sie das als „Denunziation“ empfanden. Zitat Professor Gerhard Kloos: „Alle waren zu kollegial und anständig, um der Besatzungsmacht einen Kollegen und Volksgenossen ans Messer zu liefern“ Zitat Ende.
Erst nach 12 Jahren wurde seine Identität enthüllt. Er stellte sich 1959 der Justiz, entzog sich dem anstehenden Prozess aber durch Selbsttötung im Februar 1964.
Wer glaubt, dass nach der Nazizeit die Verbrechen der Euthanasie von allen Medizinern verurteilt wurden, irrt leider. Noch 1964 äußerte der Augenarzt Prof. Dr. Alfred Fikentscher: „Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn. Ein völlig lebensuntaugliches Wesen obiger Art ist meines Erachtens kein Ebenbild Gottes und kann auch in seiner Entwicklung niemals einem solchen nahekommen. Gott kann also zu so einem Wesen nicht sein Ja gesagt haben. Ich halte deshalb die Auslöschung eines derartigen Wesens für zulässig…“ Zitat Ende.
Meiner Meinung nach finden wir diese Denkweise auch weiterhin in unserem Umgang mit Menschen mit Behinderung und chronisch kranken Menschen. Die immer noch völlig unzureichende Durchsetzung der Inklusion, zu der Deutschland seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention eigentlich seit 2009 verpflichtet ist und die ein Menschenrecht ist, zeigt, wie wenig diese im gesellschaftlichen Fokus steht. Menschen mit Behinderung werden weiterhin viel zu oft in Parallelstrukturen wie Förderschulen und Werkstätten abgeschoben, statt in Schule und Arbeitswelt inkludiert zu werden.
Vor wenigen Tagen haben sich die Morde an Menschen mit Behinderung im Oberlin-Haus in Potsdam zum vierten Mal gejährt. Eine Pflegerin ermordete Martina W., Lucille H., Christian S. und Andreas K. In der Berichterstattung war teilweise zu hören, die Täterin hätte ihre Opfer von ihrem Leiden erlösen wollen. Diese Formulierungen tragen das nationalsozialistische Gedankengut weiter, das behindertes Leben als nicht lebenswert darstellt, als Last und Gefahr für die „Volksgesundheit“.
Im vergangenen Jahr wurde ein Anschlag auf eine Wohneinrichtung der Lebenshilfe in Mönchengladbach verübt. Auf dem Stein, der auf die Tür geworfen wurde, stand „Euthanasie ist die Lösung“. Der Bezug der Täter auf die Verbrechen der Nazis ist eindeutig.
Die Einführung pränataler Bluttests auf Trisomie 13, 18 und 21 bei ungeborenen Kindern als Kassenleistung wurde nur wenig in der Öffentlichkeit diskutiert. Dabei wird er seitdem bei fast jeder dritten Schwangerschaft durchgeführt. Carina Kühne, Schauspielerin und Aktivistin mit Trisomie 21, schreibt in ihrem Blog: „Seit der [Test] Kassenleistung ist, gehört er eigentlich zur Vorsorgeuntersuchung dazu. Immer mehr werdende Eltern entscheiden sich dann gegen ihr ungeborenes Kind und treiben es ab. […] Wird es bald eine Welt ohne Kinder mit einer Trisomie 21 geben? Ist unsere Welt dann besser?“ Zitat Ende.
Die Gründe, ein wahrscheinlich behindertes Kind abzutreiben, sind vielfältig und in jedem Einzelfall unterschiedlich. Die Behindertenfeindlichkeit der Gesellschaft macht betroffenen Familien diese Entscheidung auch nicht leider. Die traurige Wahrheit ist, dass wir den Wert eines menschliches Lebens weiterhin danach beurteilen, wie „nützlich“ und vermeintlich gesund ein Mensch ist. Das Grundgesetz sagt uns eindeutig, dass diese Beurteilung falsch ist. Denn „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, ich möchte einfügen: die Würde aller Menschen!
Jetzt berichtet uns Barbara Millies zu den Planungen für einen Gedenkort an die im Nationalsozialismus ermordeten Menschen aus Worpswede. Für dieses Projekt sammeln wir heute Spenden!

Sammlung für den Gedenkort an die im Nationalsozialismus ermordeten Menschen aus Worpswede
Bericht aus der Arbeitsgruppe „Aufarbeitung der NS-Zeit in Worpswede“ im Heimat- und Geschichtsverein Worpswede e.V.
Barbara Millies
Abschluss
Erinnern heißt Verändern!
Dr. Almut Helvogt
Wir kommen langsam zum Ende unserer Gedenkveranstaltung. Unsere Initiative veranstaltet dieses Gedenken seit bald 8 Jahren, beginnend am 80. Jahrestag der Novemberpogrome bis zum heutigen 80. Jahrestages der Befreiung Deutschlands von der Nazi-Herrschaft.
Ich möchte daher einige Gedanken zum Sinn und Zweck dieser Veranstaltungen mit Ihnen teilen. Was wollen wir damit erreichen? Dass wir uns alle betroffen ansehen und uns auf die Schulter klopfen können, weil wir „die Guten“ sind? Deutschland gilt als „Erinnerungsweltmeister“, wir sind stolz darauf, wie gut wir uns mit den Verbrechen der Nazizeit auseinandergesetzt haben. Aber wem nützen diese symbolischen Handlungen, wenn wir dem Gedenken nicht Taten folgen lassen? Die nächsten Schritte, die aus der Erinnerung folgen müssten, nämlich echte Konsequenzen aus den Verbrechen im Sinne von Entschädigungen der Opfer, Rückübertragungen von gestohlenem Vermögen, Abgabe der erzielten Gewinne und eine umfassende juristische Aufklärung blieben in Deutschland weitgehend aus. Wie Max Czollek es in seinem Buch „Versöhnungstheater“ nennt: Wiedergutwerdung ohne Wiedergutmachung. Wie soll eine Versöhnung mit den Opfern und ihren Nachkommen so überhaupt möglich sein?
In den Beiträgen heute ist deutlich geworden, wie die juristische Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen absolut unvollständig geblieben ist. Nur ein sehr kleiner Teil der Verbrecher musste sich vor Gericht verantworten, viele mussten ihre Haftstrafen nicht vollständig absitzen. Die behauptete Entnazifizierung war nur vordergründig, eine „Stunde Null“ hat es nicht gegeben. Neben personellen Kontinuitäten dauerten auch die Glaubenssätze des Nationalsozialismus in den Köpfen fort. Rassistische und antisemitische Einstellungen sind bis heute und mehr denn je in der Gesellschaft und nicht zuletzt in den Sicherheitsbehörden wie der Polizei weit verbreitet.
Insbesondere in der Zeit nach der Wiedervereinigung und parallel zu einem zunehmenden Nationalstolz stieg die rechte Gewalt in Deutschland an. Auch jetzt setzt sich dieser Trend weiter fort: Im Jahr 2023 registrierte der Verfassungsschutz einen Anstieg rechtsextremistischer Straf- und Gewalttaten um 22,4 % auf 25.660 Delikte. Das sind im Schnitt mehr als 70 pro Tag. Ob diese Zahlen die Realität vollständig abbilden, darf bezweifelt werden. Beispielsweise die Morde des NSU wurden bis zu dessen Selbstenttarnung nicht als rechtsextreme Verbrechen eingestuft. Und doch bleiben, anders als bei anderen extremistischen Gewalttaten, Sondersendungen und politische Gipfeltreffen zu diesem Thema weiterhin aus.
Auch dem Aufstieg einer Partei, die in dem gerade veröffentlichten Gutachten des Verfassungsschutzes als gesichert rechtsextremistisch eingestuft wird, sieht die deutsche Öffentlichkeit weitgehend tatenlos zu. Ob Konsequenzen aus dieser aktuellen Einstufung gezogen werden, darf leider bezweifelt werden. Die Einleitung eines Verbotsverfahrens wird weiterhin insbesondere von Vertretern der Union abgelehnt.
Wie können wir also verhindern, dass diese Entwicklungen sich weiter fortsetzten? Max Czollek schreibt, “dass es „die zentrale erinnerungspolitische Frage“ sei, „ob die deutsche Erinnerungskultur an einer Gegenwart mitarbeitet, in der Minderheiten weniger gefährdet sind als zuvor […]“ Zitat Ende.
Erinnerungskultur darf deshalb nicht dabei stehen bleiben, an die Vergangenheit zu erinnern und die vermeintliche Versöhnung mit den Opfern und ihren Nachkommen zu beschwören. Deswegen ist es uns so wichtig, in unseren Beiträgen immer wieder den Bezug der Verbrechen der Vergangenheit zu den Ereignissen der Gegenwart herzustellen. Wir sind heute dafür verantwortlich, dass sich die Vergangenheit nicht wiederholt, das bedeutet es, wenn wir sagen: Erinnern für die Zukunft. Oder wie die Angehörigen der Opfer des rassistischen Attentats in Hanau am 19. Februar 2020 es ausdrücken: Erinnern heißt verändern!
Darum lasst uns alle Veranstaltungen wie die heutige als Auftrag und Ermutigung verstehen, aktiv zu werden, um unsere Demokratie vor ihren Verächtern zu schützen. Indem wir uns selbst bilden zu Themen wie Antisemitismus, Rassismus, Queerfeindlichkeit und Ableismus – und wer diesen letzten Begriff nicht kennt ist umso mehr eingeladen sich zum Thema Behindertenfeindlichkeit zu informieren. Es gibt unzählige Ressourcen online oder in Büchern wie „exit racism“ von Tupoka Ogette und dem Reclam-Heft „Ableismus“ von Tanja Kollodzieyski. Engagiert euch ehrenamtlich in Initiativen wie dem Bündnis für Demokratie – Kein Platz für Nazis in Worpswede und widersprecht jeden Tag, wenn ihr mit Menschenfeindlichkeit konfrontiert werdet! Vielleicht können wir ja auch jetzt nach dem Ende der heutigen Veranstaltung noch ins Gespräch kommen und uns gemeinsam überlegen, wie wir aktiv werden können! Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!