Internationaler Tag des Gedenkens für alle Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2025

Begrüßung:

Jochen Semken

Liebe Anwesende,

herzlich willkommen zu unserer Gedenkveranstaltung anlässlich des Internationalen Gedenktags der Opfer des Nationalsozialismus und anlässlich des 80. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz.

Heute versammeln wir uns hier, um der unzähligen Menschen zu gedenken, die unter dem grausamen Regime des Nationalsozialismus gelitten haben und ihr Leben verloren haben. Es ist ein Tag des Erinnerns, des Respekts und des Nachdenkens über dieses dunkle Kapitel unserer Geschichte.

Wie wichtig es immer wieder ist, gegen das Vergessen zusammenzukommen, können wir tagtäglich in den Medien verfolgen, wenn immer neue besorgniserregende Nachrichten erscheinen:

  • Trump ist Präsident und verbreitet vermeintlich skurrile Ideen und Phantasien, die wir aber nicht wirklich einschätzen können, uns aber sehr bedrohlich erscheinen müssen.
  • Den Tech-Milliardären von Facebook und X sind Fakten auf ihren großen Medienkanälen nicht mehr wichtig. Sie lassen zu, dass auch unwahre Behauptungen und Lügen weltweit verbreitet werden dürfen. Die Überprüfung überlassen sie uns, jedem einzelnen.
  • Die AFD spricht inzwischen offen und völlig ungeniert auf großer Bühne aus, was bisher im Konsens unserer Gesellschaft und vor allem in Verantwortung vor unserer Geschichte, unsagbar war.
  • Friedrich Merz spielt aktuell mit dem Feuer, indem er mit Einsturz der Brandmauer droht, wenn er seine Forderungen nach rigoroser Verschärfung der Migrationspolitik nicht mit den Parteien der Mitte durchsetzen kann.

In diesen schwierigen Zeiten, in denen wir sowohl mit vielen globalen Herausforderungen konfrontiert sind und weltweit die Demokratie stark bedroht ist, ist es deshalb umso wichtiger, innezuhalten und zu reflektieren.

Die Diskussionen über Themen wie Remigration und die damit verbundenen Ängste, die Diskussionen zur Verschärfung des Asylrechts, die damit auch Humanität und Menschenwürde in Frage stellen, zeigen wie tief die Gräben in unserer Gesellschaft inzwischen geworden sind.

Es ist unser aller Verantwortung, diesen Gräben entgegenzuwirken und für eine Gesellschaft einzutreten, die Vielfalt und Respekt fördert.

Lasst uns heute deshalb nicht nur der Opfer des Nationalsozialismus gedenken, sondern auch ein starkes Zeichen setzen für eine Zukunft, in der Demokratie, Toleranz und Menschlichkeit an erster Stelle stehen.

Übernehmen wir die Verantwortung und erheben uns gegen Diskriminierung und Ungerechtigkeit. Wir müssen aktiv für eine Welt kämpfen, in der alle Menschen in Frieden und Würde leben können.

Wir dürfen nicht zulassen, dass die Schrecken der Vergangenheit sich wiederholen. Die Lehren aus der Geschichte sind klar: Wenn wir nicht aufpassen, können wir die Errungenschaften der Demokratie und der Menschenrechte verlieren.

Gedenken und Erinnern an die Opfer

Verantwortung für die Demokratie in Deutschland

Pator Jörn Contag

Am 27. Januar 1945 – vor nun 80 Jahren – wurde das Vernichtungslager Auschwitz von sowjetischen Soldaten befreit. Mehr als eine Million Menschen waren allein in Auschwitz zwischen März 1942 und November 1944 in einem industriellen Massenmord mit beispiellosen Vernichtungswillen ermordet worden. Unser Gedenken ist an diesem Tag bei den Millionen von Opfern dieses unsäglichen Mordens.

Ermordet wurden 6 Millionen Jüdinnen und Juden, ca. 3,3 Millionen sowjetische Kriegsgefangene, 1,8 Millionen Polen, 500.000 Sinti und Roma, 300.000 Menschen mit Behinderungen, ferner politische Gegner und Andersdenkende, Zeugen Jehovas und schwule, bisexuelle und als homosexuell bezichtigte Menschen. Allesamt Menschen, über deren Leben eine Politik mörderischen Rassenwahns sich angemaßt hatte, es für „lebensunwert“ zu erklären.

Als die Rote Armee am 27. Januar 1945 Auschwitz erreichte, bot sich den Soldaten ein grauenhaftes Bild: Nur etwa 7.000 Häftlinge waren noch am Leben; die meisten von ihnen Elendsgestalten, die zu krank oder zu schwach für den Marsch in die Lager im Westen waren. Ein Augenzeuge notiert: „Einige sitzen stur auf der Erde, nur auf Nahrungsmittel reagieren sie. Vor Schmutz und Verwahrlosung kann man ihre Züge nicht erkennen. Es ist zu grauenhaft. Man kann das nicht beschreiben. Und man kann nicht helfen.“

Aber unser Gedenken beschränkt sich nicht auf diesen einen Tag und diesen Ort. Auch nach der Befreiung von Auschwitz ging das Morden weiter, in Belsen, Buchenwald und anderswo bis zum endgültigen Zusammenbruch des Nationalsozialismus. Wir erinnern uns an das, was von den Nazis und ihren Helfershelfern im In- und Ausland vor allem den Juden angetan wurde: „Ein ganzes Volk“, wie SS-Führer Himmler propagiert hatte, „von der Erde verschwinden zu lassen“ – und mit ihm seine Religion, seine Kultur.

Die Lager sind rational erklärbar geworden, gleichwohl bleiben sie eine emotional unzugängliche Welt. Der Schriftsteller Hans Günther Adler, der Theresienstadt, Auschwitz und Buchenwald überlebt hat, beschreibt dieses Nicht-Nachfühlen-Können: „Jeder Versuch eines Hineindenkens ist müßig, denn alles ist fremd und unbegreiflich, was an Leben zwischen den Drähten eingesammelt ist. Vom Dasein der Verlorenen ist nichts in eine Sprache zu übertragen, die draußen jemand verstünde. (…) Wer diese Vernichtung nicht an sich selbst erfahren hat, weiß es nicht, wird es nie wissen. Er hat zu schweigen.“

In der Tat: „Auschwitz“ und der planvolle und industrielle Vernichtungswahn, für den „Auschwitz“ steht, wird als „unfassbar“ und „beispiellos“, singulär“ und „präzedenzlos“ beschrieben. Keine Sprache kann das Unbegreifliche fassen. Die Unzugänglichkeit von Auschwitz kann zu einem „sprachlose Erinnern“ führen, allein, weil es keine Worte für das Unfassbare gibt.

Deshalb gehört es zum Auschwitzgedenktag dazu, darauf hinzuweisen, dass Auschwitz nicht zu trennen ist vom 9.November 1938, nicht zu trennen ist von den „Nürnberger Gesetzen“ von 1935 und nicht zu trennen ist vom Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933. Anders gesagt: Auschwitz ist nicht denkbar ohne ein von den Deutschen geduldeten und in der überwiegenden Mehrheit begrüßten Unrechts der Jahre nach 1933.

Zu dem seither viel zitierten Satz „Wehret den Anfängen“, sagt Michel Friedman, dessen Familie fast gänzlich in Auschwitz-Birkenau ermordet wurde: „… und es gab schon so viele Anfänge! Auschwitz war der Endpunkt der Gewalt. Es ist wohlfeil zu sagen, Auschwitz hätte es nicht geben dürfen. Aber vor Auschwitz gab es so viele Anfänge und sie wurden akzeptiert. An diesen Anfangspunkten muss man ansetzen. Die hätten auch nie sein dürfen. Hätte es sie nicht gegeben, hätte es den Endpunkt Auschwitz auch nicht gegeben.

Damit sind wir bei dem, was das Grauen der Menschenvernichtung uns heute zu sagen hat. Nochmal Michel Friedman – schon 2018: „Wer bei den heutigen Ereignissen noch von ´Wehret den Anfängen` redet im Zusammenhang mit dem, was wir damals erlebt haben, hat überhaupt nichts begriffen. NPD, Wehrsportgruppe Hoffmann, NSU, Beteiligung von staatlichen Stellen, jetzt die AfD, da stelle ich die Frage: Haben wir wirklich den Anfängen gewehrt?“

Das muss aber doch unsere Lehre sein. Niemals mehr der Menschenverachtung Raum zu geben. Im Kleinen nicht, damit es im Großen nicht möglich wird. Niemals mehr zuzulassen, dass Menschen wegen ihres So-Seins, ihres Anders-Seins diskriminiert, abgewertet, entrechtet oder beschuldigt werden. „Wehret den Anfängen“ heißt, dass wir nicht zuschauen können, wenn Juden in Deutschland ihre Kippa nicht in der Öffentlichkeit tragen wagen, an den Universitäten ungeschützt Angriffen ausgesetzt sind. Es beschämt mich, dass Jüdinnen und Juden es als Normalität erleben, dass ihre Einrichtungen von der Polizei beschützt werden müssen.

Es hat immer Rassismus, Menschenverachtung und Antisemitismus in Deutschland gegeben. Es galt immer, den Humanismus dagegenzusetzen.

Etwas anderes ist es jedoch, wenn menschenverachtende Positionen politische Macht erlangen. Wenn Nazisprache und Nazidenken regierungsfähig werden. Auf dem Parteitag der AfD vor zwei Wochen ist es deutlich geworden, was uns erwarten würde. Ich zitiere den liberal-konservativen Journalisten Christoph Schwennicke: „Wer sagt, ´wenn wir am Ruder sind´, dann gibt es Remigration, dann schmeißen wir die Gender-Profs aus den Unis, dann reißen wir die ´Windmühlen der Schande nieder, der (oder die) spielt auf dem Nazi-Klavier. Dieses dräuende ´wartet nur ab´ ist Nazisprech von vor 1933. Angekündigte ´Säuberung´ im SA-Ton. Von Remigration … ist es nicht weit bis Deportation. … Von einer aktiven Migration aus eigenem Antrieb auf der Suche nach einem besseren Leben zu einer Remigration, die man erleidet. Weidel weiß auch genau, wie ihr Bruder im Geiste, Björn Höcke, der seinerzeit über das Stelenfeld vom `Denkmal der Schande´ sprach, was jetzt in ihren Windmühlen der Schande widerhallt. (Zitatende) Und wenn auf dem Parteitag „Alice für Deutschland“ gerufen wird, wird natürlich auf die SA-Losung angespielt, für die sich Björn Höcke vor Gericht verantworten musste. Die Anspielungen auf den Geist des Nationalsozialismus, die Verharmlosung seiner Verbrechen sind auf dem Weg, in Deutschland salonfähig zu werden. Belege finden sich im Netz tausendfach. In einem Netz, in dem sich Hass und Lüge schon jeher verbreitet, nun – wo der Faktencheck der großen sozialen Netzwerke abgeschafft wird – sind der Ausgrenzung und Schuldzuschreibung Tür und Tor geöffnet. Ich frage mich: Was ist zu erwarten von Menschen, die sich derart hemmungslos an die Sprach- und Denkwelt des Nationalsozialismus anlehnen?

Unsere Gesellschaft steht zweifellos vor großen Herausforderungen. Die Migration, die Integration, die Frage der Verteilungsgerechtigkeit, dazu die internationalen Krisen. „Unsere Gesellschaft“ ist aber eine mit Zugewanderten und Asylsuchenden, mit der „LBGTQ“-Gemeinschaft, mit Jüdinnen und Juden. Unsere Gesellschaft sind die, die hier ihr persönliches Glück und ein Leben in Würde suchen und die das Leben der anderen achten. In einer humanen Gesellschaft ist niemand ein Niemand und jeder ein Jemand. Die Würde des Menschen zu achten heißt, jeden in seiner Persönlichkeit zu schützen. Das ist staatliche Verpflichtung.

Unsere Gesellschaft muss sich als Ganze um die Lösung der Probleme bemühen. Wir sind alle betroffen von den Ereignissen in Magdeburg und Aschaffenburg. Derzeit wird in der Politik viel vom „gesunden Menschenverstand“ gesprochen. Der „gesunde Menschenverstand“ – wenn ich den Begriff schon aufnehme – wird nicht hinnehmen, dass für die entsetzlichen Taten von psychisch kranken Menschen ganze Bevölkerungsgruppen wie Menschen mit Einwanderungsgeschichte in Haftung genommen werden. Hass und Ausgrenzung von Bevölkerungsgruppen ist nichts anderes als die Suche einfacher Antworten durch Finden von Sündenböcken. Eine humane Gesellschaft wird hier widersprechen. Das Erinnern an Auschwitz mahnt uns: Es ist geschehen, folglich kann es wieder geschehen. Das zu verhindern, ist jede Mühe wert.


Im Anschluss daran sind wir gemeinsam zur Galerie Altes Rathaus gegangen.

Dort hat uns Burckhard Rehage, Heimat – und Geschichtsverein Worpswede e.V., durch die Ausstellung „Gegen das Vergessen. Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, Lager – eine Spurensuche. Foto-Dokumentation von Hans-Roland Becker“ geführt. Auch Hans-Roland Becker selbst war anwesend und hat uns in die Ausstellung eingeführt.