
Begrüßung und Moderation: Jochen Semken, Worpswede
Ich begrüße Sie alle sehr zu unserer Gedenkveranstaltung anlässlich des 86. Jahrestages des Novemberpogroms 1938
Besonders freue ich mich über die Beteiligung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen der „Scheune“ unserem ev. Jugendhaus in Worpswede. Danke, dass ihr heute hier seid und uns damit auch Eure Gedanken zur aktuellen Situation und Lage mitteilen könnt
In der Vorbereitung zum heutigen Tag hatte ich mich letzte Woche entschieden die einleitenden Worte mit: „Wir leben in unruhigen Zeiten!“ zu beginnen.
Nach den aktuellen Ereignissen mit der Wahl von Trump zum amerikanischen Präsidenten und dem quasi „Aus“ unserer Bundesregierung, möchte ich anfangen mit:
Wir in „dramatischen und sehr unsicheren Zeiten“
Schon häufiger wurde gesagt: Die Welt gerät gerade aus den Fugen! Der Klimawandel tritt immer deutlicher zu Tage und wir scheinen dieses Jahr die 1,5 Grad Marke überschritten zu haben. Als eine der Folgen verursacht der Klimawandel vielerorts Überschwemmungen oder das Gegenteil: schlimme Dürreperioden. Dies führt wiederum zu großem Hunger in vielen Ländern, z.B. auf dem afrikanischen Kontinent.
Wir in Deutschland sind gerade direkt betroffen von 2 schrecklichen Kriegen. Die Gründe für diese Kriege werden täglich versucht zu erklären und zu interpretieren. Und aus Sicht der unterschiedlichen Kriegsbeteiligten, versucht zu rechtfertigen, auch mit Unrechtstaten des jeweils anderen in früheren Zeiten. Nicht wirklich im Focus von vielen steht allerdings in der Regel das Leid, dass durch diese Kriege entsteht. Das Leid der Kinder, die ihren Vater im Krieg verloren haben. Viele hunderttausende sind wohl auf beiden Seiten inzwischen in der Ukraine gestorben. Und das Leid der Eltern, die ihre Kinder durch Geiselnahme und Entführung aber auch durch immer modernere Waffen verloren haben und sich nicht wehren können.
Dies alleine müsste doch Grund für sofortige Verhandlungen zum Ende des Krieges sein.
Daneben erleben wir hier in Deutschland weiterhin ein Erstarken der extremen Rechten und der AFD. Antisemitismus und Judenfeindlichkeit treten offen zu Tage. Im Vergleich zum Jahr 2022 stieg die Gesamtzahl der rechtsextremistischen Straf- und Gewalttaten im Jahr 2023 nochmals deutlich um 22,4 % auf 25.660 Delikte.
Diese Liste der dramatischen Ereignisse ließ sich noch sehr lange fortführen. Ganz aktuell wird die Wahl Trumps wahrscheinlich auch unser Leben beeinflussen, viele Fachleute sind der Meinung, nicht unbedingt positiv.
Und dann auch noch Neuwahlen! Oft erschlagen mich alle diese Themen und Problemfelder und ich bin nahezu ohnmächtig vor Verzweiflung. Und nun?
Gestern Nachmittag war ich auf dem Lichterfest in der Bergstraße und wartete auf den Laternenumzug der Kinder. Während des Wartens traf ich einen alten Freund aus Kindertagen. Natürlich sprachen wir auch über die aktuelle Situation hier und die Probleme der Welt, quasi also über alle Themen die ich eben kurz angerissen habe.
Unsere gemeinsame Erkenntnis war: Zurückblickend hatten wir bis vor kurzem doch ein tolles und nahezu unbeschwertes Leben. Eine behütete Kinderzeit mit sehr langer Leine unserer Eltern um die Welt zu erkunden, ich hatte eine tolle Jugendzeit in der Scheune sowohl als Besucher aber auch lange als ehrenamtlicher Mitarbeiter, danach auch die ehrenamtliche politische Arbeit war in der Regel äußerst sinnerfüllt mit dem Ziel unseren Ort liebenswert zu erhalten.
Aus eigener Erfahrung sage ich deshalb gerade allen Personen die jünger als ich sind: Auch wenn es aktuell scheinbar viele unlösbare Themen gibt und vermeintliche Bedrohungen unser tägliches Leben schwer machen, es ist ein lohnendes Ziel sich für Frieden einzusetzen und für unsere Demokratie zu kämpfen und nicht den Kopf in den Sand zu stecken!!!
Natürlich kann das niemand von uns alleine schaffen, dazu braucht es viele Schultern, um die Last zu verteilen. Aber wie gesagt, wenn ich auf mein bisheriges Leben zurückblicke, ich bin sicher es lohnt sich! Deshalb möchte ich noch einmal ausdrücklich betonen, dass ich mich sehr über die Beteiligung der Jugend aus der Scheune am heutigen Tag freue. Vielen Dank!

Beitrag von Andy Griebe, Jugendzentrum „Die Scheune“
Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 war das offizielle Signal zum größten Völkermord in Europa. Sie markierte den Anfang der Judenverfolgung und hinterließ einen dunklen Fleck auf dem kollektiven Gedächtnis der Deutschen. Dieser Fleck war aber nicht nur ein dunkler – sondern zugleich auch ein blinder Fleck. Denn erst 40 Jahre nach diesen Taten gedachte Helmut Schmidt als erster Bundeskanzler öffentlich der Geschehnisse. Und heute wird es auch schon wieder schwierig, die Erinnerung an diese Nacht wach zu halten.
Als ich im Jugendzentrum mit den Vorbereitungen zu diesem Tag begonnen habe, habe ich die Jugendlichen gefragt, was sie mit diesem Datum verbinden. Und keiner konnte mit dem Datum oder mit dem Namen dieses schrecklichen Tages etwas anfangen. Ich will den Jugendlichen da keinen Vorwurf machen. Die Jugend kann nur das wissen, was wir ihnen vermitteln. Denn wenn wir anfangen zu schlafen – nicht mehr das weitergeben, was in Deutschland passiert ist – zu was Menschen in der Lage sind, dann wird uns die Geschichte irgendwann auf die Füße fallen. Die Anfänge dazu sehen wir doch schon in ganz Deutschland, Amsterdam vor zwei Tagen, in Frankreich und Italien. Und fast jeder kennt doch jemanden, der die AfD wählt.
Deshalb lasst uns alle hellwach sein für unser schönes, freies Land, in dem die Herkunft, die Hautfarbe und der Glaube keine Rolle spielen sollten.
Wehrt den Anfängen.
Nie wieder ist jetzt.

Katharina Hanstein-Moldenhauer verliest die Namen der Juden und Jüdinnen aus Worpswede und umzu – ermordet und vertrieben von den Nazis
- Johanne Sanders, geb. 1870. geb. Abraham. Deportiert 1942 nach Theresienstadt, ermordet in Treblinka.
- Sophie Schwabe, geb. 1879. geb. Abraham. Gestorben 1943 in Theresienstadt.
- Merri Leeser, geb. 1863. geb. Abraham. Gestorben 1942 in Theresienstadt.
- Rosa Abraham, geb. 1872. Deportiert 1942 nach Theresienstadt, ermordet in Treblinka.
- Hugo Abraham, geb 1898. Emigriert 1938 in die USA.
- Henny Goldschmidt, geb. 1896.Emigriert 1935 in die USA.
- Siegfried Goldschmidt, geb 1921. Emigriert 1935 in die USA.
- Walter Steinberg, geb. 1871. Sommerhaus in Worpswede. Deportiert 1942 nach Theresienstadt, wo er sich das Leben nimmt.
- Betty Meyer, 1886-1957, überlebt in Worpswede.
- Käthi Meyer, 1892-1970, überlebt in Worpswede
- Karl Jakob Hirsch. 1892-1952. Emigriert in die USA 1934. Endgültig nach Dtld. Zurückgekommen 1948.
- Hilde Hamann. 1898-1987. Emigriert 1933, nach Paris, danach London.
- Pau! Hamann. 1891-193. Emigriert 1933, nach Paris, danach London.
- Adolph Goldberg, geb. 1860. Ermordet in der Nacht vom 9. auf den 10.11.1938 in Burgdamm
- Martha Goldberg, geb. 1873. Ermordet in der Nacht vom 9. auf den 10.11.1938 in Burgdamm.
- Leopold Sinasohn, geb. 1877.Ermordet in der Nacht vom 9. auf den 10.11.1938 in Platjenwerbe.
Gedenkreden:
Zum 86. Jahrestag der Reichspogromnacht 1938: Gedenken in diesen Zeiten?! Was bedeutet es für uns und unser Zusammenleben?
Dr. Bernd Moldenhauer, Worpswede
Drei Tage
Wir treffen uns auf dem Rosa-Abraham-Platz seit Jahren an drei Tagen: heute, am Tag des ersten Pogroms im 20. Jahrhundert, am 9. November 1938. Das zweite Datum ist der 27. Januar. An diesem Tag wurden im Jahr 1945 die letzten Überlebenden aus dem Vernichtungslager Auschwitz im Jahr 1945 befreit. Das war der Endpunkt eines vom deutschen Staat und deutschen Volk angerichteten Menschheitsverbrechens. Und am 8. Mai. Der 8 Mai 1945 ist der Tag, an dem alliierte Streitkräfte mit dem Regime ein Ende machten, das 1933 mit dem gebrüllten Versprechen begann, to make germany great again.
Erinnern
Daran zu erinnern, wird bei uns zuweilen als „Gedenkkultur“ bezeichnet. Dieser Ausdruck entspricht weder dem Anlass noch der Geschichte nach 1945. Erinnern soll sich eine Gesellschaft an ihre eigenen Untaten. Gedenken gilt den Opfern der Untaten.
Erinnern hat nach dem Krieg, wenn überhaupt, im Privaten stattgefunden. Öffentlich herrschte dröhnendes Schweigen, Verleugnen, Verdrängen unliebsamer Erinnerungen. Erinnert wurde bei uns daran, wie schwer man es selber hatte, nicht, was man anderen angetan hatte. Kein Wunder, nach der Niederlage im Krieg waren fast alle, die Hitlers Regime getragen hatten, noch da und die meisten in Amt und Würden. Es dauerte 20 Jahre, bis die damalige Studentenbewegung nach den Gründen des Faschismus zu fragen begann. Und es mussten 40 Jahre vergehen, ehe der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 in seiner Rede zum Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs nicht vom Zusammenbruch, sondern von der Befreiung der Welt, auch der deutschen Bevölkerung, vom Nationalsozialismus sprach.
Obwohl das Thema in Zeitungen, im Fernsehprogramm und im Netz fast täglich präsent ist, können viele nichts mit dem 9.11. 1938 verbinden. Daher eine kurze Erinnerung. Es war ein staatlich verordnetes Pogrom. Das Wort Pogrom stammt aus dem Russischen und bedeutet „Verwüstung“. In Brand gesteckt oder zerstört wurden 1.200 Synagogen im Gebiet des Deutschen Reichs. Stellen wir uns vor, in einer Nacht würden sämtliche Kirchen im Landkreis in Flammen aufgehen und die Feuerwehren stünden tatenlos daneben. So haben Juden und Jüdinnen die Nacht erlebt.
Es wurden 7.000 jüdische Geschäfte und kleine Läden demoliert, Hunderte Privatwohnungen verwüstet oder beschädigt. Nach offiziellen Angaben wurden während des Pogroms 91 Juden und Jüdinnen getötet, viele weitere Juden starben in den folgenden Wochen oder verübten Selbstmord. Fast 30.000 jüdische Männer und männliche Jugendliche wurden für Wochen oder Monate in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen verschleppt. Hunderte kamen nicht mehr frei, sondern starben dort. Die Ereignisse im November machten deutlich: Juden waren in Deutschland nun endgültig nicht mehr erwünscht. Alle noch bestehenden jüdischen Organisationen und Einrichtungen wurden aufgelöst. Jüdische Kinder wurden von öffentlichen Schulen gewiesen.
Selbst wenn der antifaschistische Widerstand in den Jahren 1933-1945 die Nazis nicht in die Kniee gezwungen hat, hat er tausende von Menschen, vor allem Jüdinnen und Juden, in Deutschland und anderen europäischen Ländern vor der Versklavung und Vernichtung gerettet. Ein bewegendes Beispiel sind die organisierten Transporte von über 10.000 Kindern aus Deutschland und Prag ins sichere Ausland, vor allem nach Großbritannien, organisiert von jüdischen und anderen Organisationen. Auch Einzelne nahmen die Organisation in die Hand, wie Nicholas Winton, dessen atemberaubender Einsatz in dem Spiel- und Dokumentarfilm „One life“ gezeigt wird. Die meisten von ihnen sahen ihre Eltern, die später in die Vernichtungslager deportiert wurden, nie wieder.
Deutlich wird am Wirken solcher Menschen wie bedeutsam der Widerstand auch jedes und jeder Einzelnen ist, was es heißt, Verantwortung zu übernehmen und nicht Schuld auf sich zu laden. Wir tragen keine Schuld an der Nazidiktatur, aber wir tragen mit an der Verantwortung zu verhindern, dass je wieder Faschisten in Deutschland regieren.
In unser Erinnern und Gedenken müssen wir auch eine andere Gruppe der Gesellschaft aufnehmen, die nach der Ideologie von Nationalsozialisten und Faschisten kein Recht hat zu leben: die auf irgend eine Weise behinderten Menschen. An diesen Menschen wurde der industrialisierte Massenmord zuerst erprobt. Eine Arbeitsgruppe des Worpsweder Heimatvereins hat erstmals die weitgehend unbekannte Geschichte der Euthanasieopfer in unserem Ort erforscht und damit einen bedeutenden Beitrag geleistet.
Was bedeuten Gedenken?
Gedenken setzt voraus, eine Vorstellung davon zu haben, was menschlich und was unmenschlich ist. Im Privatleben haben wir keinerlei Zweifel, dass jeder Übergriff dieser Art ein Verbrechen ist und dass die Opfer vom Staat geschützt werden müssen. Wenn es um Politik geht, meinen offenbar viele, hier sei jede Grausamkeit erlaubt oder geboten.
Der Antisemitismus begann nicht mit Auschwitz, auch nicht mit dem Novemberpogrom. Er begann und beginnt immer wieder mit Diskriminierung, mit Einschüchterung und Bedrohung, Vertreibung aus der Öffentlichkeit, Gewalt gegen Sachen und Menschen – genauso, wie Juden und Jüdinnen es in Deutschland und anderen Ländern nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 erleben.
Wir können über Gesellschaft und Staat alle möglichen Meinungen oder Überzeugungen haben. Die Grenze liegt da, wo diese Meinungen dazu führen, Menschen mit anderen Meinungen und Überzeugungen mit Gewalt zu drohen oder sie anzugreifen. Die Meinungsfreiheit gehört zu demokratischen Verhältnissen, der Schutz vor Verbrechen zum Rechtsstaat.
Um all dies geht es, wenn wir die Frage nach der Bedeutung des Gedenkens für unser Zusammenleben stellen. Man kann es auf diesem kleinen Platz sehen. Niemand von denen, derer wir gedenken, hatte irgend jemanden geschädigt. Wir haben vor einem Jahr hier von dem Arztehepaar Goldberg aus Bremen Nord gehört, die sich beide aufopfernd um Patienten und Menschen in Not bemüht hatten und in ihrer Gemeinde beliebt waren. Sie sind bei dem Pogrom ermordet worden. Die das getan haben, haben überhaupt keine Vorstellung von Menschlichkeit mehr gehabt. Der Verlust an Menschlichkeit auf der Seite der Täter und Täterinnen ist es, an den wir uns erinnern müssen als eine ständige Gefahr.
Die Erinnerung und das Erinnern an die nationalsozialistischen Verbrechen und die Täter soll, wenn es nach rechtsextremen Parteien und Bewegungen geht, gänzlich ausgelöscht werden. Gedenkstättenleiter gehen davon aus, dass ihnen bei Beteiligung der AfD an Landesregierungen und der Bundesregierung Gelder gekürzt werden.Der Leiter der Gedenkstätte Mittelbau – Dora, Prof. Jens-Christian Wagner, hat in einem Brief an die Thüringer und Thüringerinnen anlässlich der letzten Landtagswahl darauf hingewiesen, „dass sich die AfD notorisch gegen die Erinnerungskultur wendet und unsere Arbeit als ‚Schuldkult‘ diskreditiert. Notorisch reden Vertreter:innen der AfD die NS-Verbrechen klein, relativieren sie oder betreiben Schuldumkehr, wenn sie die Alliierten als die eigentlichen Kriegsverbrecher bezeichnen, wie das etwa der Nordhäuser AfD-Politiker, der den britischen Luftangriff auf Dresden mit Auschwitz gleichsetzte und den amerikanischen Befreiern des KZ Mittelbau-Dora ‚Morallosigkeit‘ vorwarf.
Parteichef Björn Höcke forderte eine ‚erinnerungspolitische Wende um 180 Grad‘, und der AfD-Bundes-Ehrenvorsitzende Gauland bezeichnete bekanntlich die NS-Zeit in einer Rede in Thüringen als „Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“.
Was bedeutet Gedenken in dieser Zeit?
In diesen Tagen haben wir allen Anlass, uns unserer Geschichte zu erinnern, weil sie sich an anderem Ort zu wiederholen scheint. Die älteste Demokratie führt es gerade vor. Der Wahlkampf in den USA ging bekanntlich so aus, dass die Mehrheit der Wähler einem verurteilten Straftäter, Rassisten und pathologischen Lügner, der von Rechts wegen längst hätte im Gefängnis sitzen müssen, das Vertrauen ausgesprochen hat. Er hat angekündigt, die Verfassung nicht anzuerkennen, Migranten in Lager zu schaffen und zu deportieren und seine politischen Gegner juristisch zu verfolgen. Das war nicht etwa ein Hinderungsgrund für seine Wahl, sondern das, was seine Wähler wollen. Ihnen geht es nicht um die Erhaltung der Demokratie. Gerade diese Entgrenzung, dieses Ignorieren jeglichen zivilisierten Verhaltens, diese Verweigerung von Verantwortungsübernahme für das eigene Tun scheinen für seine Wähler und Wählerinnen attraktiv zu sein. Die Verletzung von Wahrheit, Recht und Menschenwürde lebt er vor.
Extrem rechte Bewegungen folgen dem gleichen Fahrplan. Er ergibt sich aus ihrem gemeinsamen Ziel, das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Menschen im Rahmen einer verfassten Ordnung zu zerstören. Zunächst wird der Rechtsstaat ausgehebelt, dann werden politische Gegner verfolgt, Minderheiten bedroht, entrechtet, ihrer Existenzgrundlage beraubt, dann folgen Deportation, Lager und Vernichtung. Gewalt ist der Normalzustand im Leben der Gesellschaft.
Das alles wird offen angekündigt. Die Sprache ist immer dieselbe. Im Jahre 1937 preist ein Autor in der Publikation „Der nationalsozialistische Erzieher“ „…die bei allen Unternehmungen des Nationalsozialismus gewohnte gründliche, radikale Reinigung und Neuordnung… . Mögen es sich unsere Gegner gesagt sein lassen: sie stehen auch hier auf verlorenem Posten!“ 2018 sagtet Björn Höcke, AfD, in einem Gespräch mit einem Journalisten: Es geht um den Ausschluss aller, die den Machthabern nicht zustimmen, es geht um einen „Aderlass“. „Wir (werden) leider ein paar Volksteile verlieren…, die zu schwach oder nicht willens sind“ mitzumachen. „Die deutsche Unbedingtheit wird der Garant dafür sein, dass wir die Sache gründlich und grundsätzlich anpacken werden. Wenn einmal die Wendezeit gekommen ist, dann machen wir Deutschen keine halben Sachen.“
Das Warum und das Wozu
Wir wissen einiges darüber, warum Menschen extrem rechte Parteien wählen und warum sie gewalttätig werden. Sie haben angeblich Angst vor sozialem Abstieg, vor Migranten, sie hassen Menschen, die nicht so aussehen wie sie, sie haben keine eigene Identität und sind daher auf eine nationale Identität angewiesen. Dazu will ich hier nichts weiter sagen.
Es ist aber vielleicht interessant, sich zu fragen, wozu sie das tun? Wozu die Wendezeit und die Ankündigung von Grausamkeit?Was kommt dabei heraus?
Nach 1945 haben sich unsere Landsleute diese Frage nach dem Wozu auch rückwirkend nicht gestellt, obwohl sie das Ergebnis vor Augen hatten. Als die Nationalsozialisten alle Punkte ihres Parteiprogramms erfüllt hatten, war kein Stein mehr auf dem anderen. Das wird sich nicht ändern. Daher müssen und werden wir uns auch in den nächsten Jahren hier versammeln, so lange wir Verhältnisse haben, die das zulassen.
In demokratischen Verhältnissen kommt es auf Mehrheiten der Wähler an und auf Parteien, die aus der Geschichte gelernt haben. Noch wählen 70 bis 80 % keine rechtsextreme Partei. Noch gibt es keine Koalitionen mit der AfD. Aber sicher ist beides nicht. Heute um 19.00h spricht der AfD-Aussteiger Simon Bucher im Ratssaal in Ritterhude. Seine Botschaft: „Wenn wir die AfD schwächen wollen, müssen wir lernen, im demokratischen Spektrum an einem Strang zu ziehen“, (WÜM, 8.11.24). Das zu tun ist eine Frage des Prinzips, nicht von politischer Taktik und Opportunität. Die Parteien des demokratischen Spektrums müssen die Erfahrungen aus der Zeit des Endes der Weimarer Republik ernst nehmen und sich auf keine Zusammenarbeit mit der extremen Rechten einlassen.
Der 9. November und die neuesten Wahlergebnisse lassen nur eine Folgerung zu: egal, wie wir uns in Fragen der Gesellschaftspolitik und der Weltpolitik streiten – vor dem Hintergrund des Wissens um die Vergangenheit und der Einschätzung der drohenden Gefahren dürfen wir uns nicht spalten spalten lassen im Kampf für den Erhalt der Demokratie. Das ist unser Appell an die demokratischen Parteien, an die Länder- und Kommunalregierungen. Noch sind wir die Mehrheit, sorgen wir dafür, dass es so bleibt.
Persönliche Erinnerungen an eine jüdische Kindheit in London
Ian Bild
Ich wurde 1954 in London in eine jüdische Familie hineingeboren. Meine jiddischsprachigen Urgroßeltern waren viele Jahrzehnte zuvor, um 1900, aus Osteuropa nach Großbritannien ausgewandert, um Armut und den Pogromen zu entkommen.
Das London der 1950er Jahre, noch gezeichnet von den Spuren des Krieges, bot uns Kindern ausgebombte Gebäude als Spielplätze – so gefährlich sie auch waren.
Der Krieg, obwohl er nur neun Jahre vor meiner Geburt geendet hatte, war für uns Kinder – Juden und Nichtjuden – jedoch eine ferne Erinnerung. Unsere Eltern und Großeltern sprachen ständig darüber und erzählten Geschichten von den Kämpfen, Erfahrungen als Kriegsgefangene, der Heimatfront und den Evakuierungen von London aufs Land, um den schrecklichen Bombenangriffen, dem Tod und der Zerstörung zu entkommen. Meine Eltern waren als Teenager aus dem Londoner East End evakuiert worden.
Doch als Kinder und Jugendliche der 1950er und 60er Jahre wollten meine Freunde und ich einfach unser Leben leben. Viele meiner Freunde waren ebenfalls Juden, da Hackney, das Viertel im Nordosten Londons, in dem wir wohnten, eine große jüdische Bevölkerung hatte. Wie so viele Juden in London waren meine Eltern und Großeltern aus dem angrenzenden sogenannten East End weggezogen, einem Hafengebiet nahe der Themse, das im Krieg schwer bombardiert worden war.
So wollten meine Freunde und ich einfach Fußball spielen, gingen zu den Pfadfindern, besuchten den Jugendclub in der Synagoge. Jungen und Mädchen verliebten sich und entliebten sich wieder, wir lernten für unsere Bar- und Bat-Mizwa, die religiösen Zeremonien für jüdische 13-Jährige, und besuchten die Religionsschule, wo wir über das Judentum und Hebräisch lernten und vor allem, wie man Fragen stellt. Vielleicht gingen meine eigenen Fragen einigen Lehrerinnen ein bisschen zu weit, aber das ist eine andere Geschichte.
Die Religionsschule, die ich besuchte, war Teil der North London Progressive Synagogue, die fest in der reform- und progressiven jüdischen Tradition verwurzelt war. Diese Bewegung ist im 19. Jahrhundert in Deutschland entstanden, als Antwort auf die als erstickend empfundene Orthodoxie. Auch das ist eine eigene Geschichte.
Tatsächlich waren meine Eltern ursprünglich in einer orthodoxen Tradition aufgewachsen und besuchten orthodoxe Synagogen, doch als ich etwa neun Jahre alt war, entschieden sie sich, einer liberalen, progressiven Synagoge beizutreten. Dort saßen Männer und Frauen gemeinsam, die Gottesdienste waren nicht nur auf Hebräisch, sondern auch auf Englisch und damit verständlicher, und die jüdischen Traditionen wurden für das moderne Leben in London relevanter gemacht. Unsere Familie führte weiterhin einen koscheren Haushalt und feierte die jüdischen Feste, aber sie praktizierte das Judentum passend zu ihren eigenen Leben und Wünschen.
Eine der Lehrerinnen in unserer Religionsschule, tatsächlich die Leiterin der Religionsschule der North London Progressive Synagogue, war Hilda Shindler. Sie war allgegenwärtig in unserem Leben – eine wunderbare Lehrerin und Organisatorin. Hilda Shindler war unverheiratet und hatte keine Familie. Sie lehrte uns viel über jüdische Traditionen, Selbstachtung und Respekt für andere.
Über dem Bogen in der Synagoge hing der Vers des Propheten Micha: „Übe Gerechtigkeit, liebe Barmherzigkeit und wandle demütig mit deinem Gott.“ Hilda Shindler bezog sich oft auf diese Worte, und ihre Bedeutung ist mir all die Jahre in Erinnerung geblieben.
Hilda Shindler sprach nicht über ihre eigene Vergangenheit. Wir wussten wenig oder gar nichts über sie. Erst später im Leben erzählte sie von ihren Erfahrungen, und ihre Lebensgeschichte wurde von der Wiener Holocaust-Bibliothek in London aufgezeichnet.
Hilda Shindler wurde 1920 in Berlin in eine liberale jüdische Familie hineingeboren. Sie besuchte das Kleist-Lyzeum und danach die jüdische Schule in der Großen Hamburger Straße. Die Familie lebte in Alt-Moabit. Als das Leben für Juden in Deutschland unter den Nazis immer restriktiver und unerträglicher wurde, gelang es Hilda 1939 durch einen Verwandten in Luxemburg, ein Visum für das Vereinigte Königreich zu erhalten. Gerade noch rechtzeitig. Ihre Eltern blieben in Berlin zurück. Sie wurden nach Theresienstadt deportiert, wo ihr Vater umkam. Ihre Mutter starb später in Auschwitz.
Hilda Shindlers erster Job in London war als Haushaltshilfe bei einer Familie in Muswell Hill. Später wurde sie Schneiderin. Während des Krieges arbeitete sie als Brandwache, besuchte Gottesdienste der New Liberal Jewish Congregation (später Belsize Square Synagogue) und engagierte sich für das liberale und progressive Judentum. Die progressive jüdische Bewegung, eine Tradition, die sie aus Deutschland kannte, wurde ihre neue Familie.
Ich habe oft darüber nachgedacht, warum sie, wie so viele andere Holocaust-Überlebende, uns nichts von ihren Erlebnissen erzählte. Vielleicht war das Trauma zu groß, vielleicht wollte sie, dass wir als aktive, positive, progressive Juden aufwachsen und nicht als Opfer. Schließlich hatten die Juden in Großbritannien den Holocaust nicht direkt erlebt. Später in meinem Leben, obwohl ich weniger praktizierend war, interessierte ich mich sehr für die jüdische Geschichte. Ich schrieb ein Buch über die Juden in Großbritannien und produzierte Radiosendungen und Filme über alle Aspekte des jüdischen Lebens und auch über den Holocaust.
Einmal recherchierte ich für einen Film über die Wannsee-Konferenz, die am 20. Januar 1942 in einem Berliner Vorort stattfand. Ziel der Konferenz war die Organisation und Umsetzung der sogenannten Endlösung, also die Vernichtung der Juden Europas. Bei meinen Recherchen stieß ich auf die erschreckende Liste der zu vernichtenden Juden, geordnet nach Ländern. Darunter befand sich England – 330.000 Juden.
Wäre die Invasion der Nazis in Großbritannien erfolgreich gewesen, wäre auch meine eigene Familie nicht verschont geblieben.
Als Kind und später als Teenager in London in den 1950er und 1960er Jahren konnte ich trotz aller Probleme der Zeit in einer liebevollen und unterstützenden Familie aufwachsen und alles tun, nun ja, vielleicht nicht alles, aber die meisten Dinge, die Kinder und Teenager tun wollten.
Hier in Worpswede, in den 30er Jahren, wollte der Teenager Siegfried Goldschmidt ebenfalls ein normales Leben führen, mit seinen Freunden spielen, in die Synagoge und zur Schule gehen. Seine jüdische Familie wurden immer mehr eingeschränkt und beleidigt, einfach weil sie Juden waren. Er, Siegfried, hatte das Glück, ein Visum für die USA zu bekommen. Er war eines der ganz wenigen jüdischen Kinder, die die Erlaubnis erhielten, in die USA einzureisen. Die einwanderungsfeindliche Stimmung und Gesetzgebung dort kosteten zahllose jüdische Leben.
Die britische Regierung war etwas weniger restriktiv, und rund 10.000 jüdische Kinder wurden durch die sogenannten Kindertransporte gerettet.
Aufgrund weltweiter Einwanderungsbeschränkungen in den 1930er Jahren war die Zahl der Juden, die den Nazis entkommen konnten, jedoch sehr gering. Für die meisten, die fliehen wollten, gab es keinen Ort, wohin sie gehen konnten.
Einige Juden in Deutschland blieben jedoch, weil sie Deutschland immer noch als ihre Heimat betrachteten, das Land, in dem sie geboren und aufgewachsen waren und in dem sie lebten. Sie hatten die Gefahren nicht wahrgenommenen.
Unter ihnen war die Großmutter von Siegfried, Rosa Abraham, die in dem Haus hinter mir im heutigen Udo-Peters-Weg lebte. Ihre Familie wohnte seit den 1850er Jahren in Worpswede. 1942 wurde Rosa, einfach weil sie Jüdin war, nach Theresienstadt deportiert und danach nach Treblinka, wo sie ermordet wurde.
Heute wie jedes Jahr um diese Zeit werde ich das Kaddisch sprechen, das hebräische bzw. aramäische Gebet zum Gedenken an die Verstorbenen – hier zum Gedenken an Rosa Abraham und die anderen jüdischen Mitbürger- und Mitbürgerinnen aus Worpswede und Umzu, die im Holocaust umgekommen sind.