2021

Gedenken am 9.11.2021 in Worpswede zum 83. Jahrestag der Reichspogromnacht 1938

Rosa-Abraham-Platz, 18.00h

Aufruf

Begrüßungsrede

Almut Helvogt

Im Namen der Initiative „Nie wieder! – Erinnern für die Zukunft – Gemeinsam gegen Rechts!“ begrüße ich alle Anwesenden herzlich. Ich freue mich, dass wir uns in diesem Jahr wieder in Präsenz hier versammeln können, um der Ereignisse vor 83 Jahren zu gedenken.

Ich weise darauf hin, dass selbstverständlich die allgemeinen Hygieneregeln eingehalten werden müssen. Ich bitte Sie alle, medizinische Masken zu tragen und auf einen ausreichenden Abstand zu anderen Personen zu achten.

Auf dem Tisch dort finde Sie unsere Spendenbox, in der wir erneut für AMCHA sammeln, einer nicht-staatlichen Organisation in Israel, die den Überlebenden der Shoah sowie deren nachfolgendenden Generationen bei der Bewältigung ihrer Traumata zur Seite steht.

Die Gedenkrede wird in diesem Jahr Pastor Jörn Contag halten. Anschließend hören wir verschiedene Texte, die von Mitgliedern unserer Initiative gelesen werden. Zum Abschluss wird Ian Bild das Kaddisch sprechen.

Wir versammeln uns in Worpswede und im ganzen Land am 9. November, um der in der Pogromnacht 1938 entrechteten, vertriebenen und ermordeten Juden und Jüdinnen zu gedenken.

Wir gedenken der in Worpswede aufgewachsenen Schwestern Johanne Sanders, (geb. Abraham), ermordet in Treblinka, ihrer Schwestern Sophie Schwabe und Merry Leeser, umgekommen in Theresienstadt. Wir gedenken ihrer Schwägerin Rosa Abraham, ermordet in Treblinka, der Kinder von Rosa Abraham – Sohn Hugo, der von Delmenhorst aus emigriert ist, und ihrer Tochter Henny Goldschmidt, deren Sohn und deren Mann, die ebenfalls (von Bremen aus) emigriert sind.

Wir denken an Walter Steinberg, einen Herrenschneider aus Bremen, der ein Sommerhaus in Worpswede an der Stelle der heutigen Polizeiwache hatte. Walter Steinbergs Geschäft wird in der Pogromnacht zerstört, er selbst 1942 im überfüllten Viehwaggon nach Theresienstadt deportiert, wo er sich das Leben nimmt. Seine nichtjüdische Lebensgefährtin wurde nach Auschwitz deportiert.

Wir denken auch an Betty und Käthi Meyer. Betty hatte seit 1936 als Klavierlehrerin Berufsverbot, die Schwestern mussten 1938 auf Druck der NSDAP ihr Land zu Schleuderpreisen verkaufen.

Wir denken an Karl Jakob Hirsch, die Malerin Hilde Hamann und den Bildhauer Paul Hamann. Sie konnten zum Glück Worpswede vor 1933 verlassen und gehören zu den jüdischen Emigrant*innen.

Wir denken an Adolph und Martha Goldberg sowie Leopold Sinasohn, die im Kreis Osterholz in der Pogromnacht ermordet wurden. 

Erlauben Sie mir einige Gedanken zu der Art und Weise, wie wir heute in Deutschland der Verbrechen der Nationalsozialisten gedenken. Heute und in dieser Woche finden überall in Deutschland Gedenkfeiern wie diese statt. Sind diese Veranstaltung noch zeitgemäß? Sind Sie notwendig? Sind sie ausreichend?

Kritik an dieser Art des Gedenkens kommt aus zwei Richtungen. Einerseits gibt es diejenigen, die einen „Schlussstrich“ fordern. Diese Menschen wollen sich nicht mit der Schuld ihrer Vorfahren belasten, für die sie selbst doch nicht könnten. Sie werfen im Gegenteil den Juden und Jüdinnen vor, den Holocaust für ihre Zwecke zu instrumentalisieren – und reproduzieren damit erneut antisemitische Klischees in Reinkultur.

Eine Ausprägung dieses Denkens ist die hervorgehobene Kritik am Staat Israel, der israelbezogene Antisemitismus. So beschreibt die Autorin Mirna Funk, wie sie auf ihrer Lesereise statt nach den Inhalten ihres Buches nach ihrer Haltung zur Politik der israelischen Regierung gefragt wird. Welche Verantwortung trägt eine deutsche Jüdin für die israelische Politik?

Der wahre Hintergrund dieser vorgeschobenen Kritik (so sehr ein Kritisieren der Politik in jedem Land der Erde für die Demokratie notwendig und richtig ist!) ist eine Entlastung der Deutschen von ihrer Schuld, ihrer Verantwortung. Der Gazastreifen ist ein Konzentrationslager, es geschieht ein Völkermord gegen die Palästinenser! Die Juden sind genauso schlimm, wie es die Nazis waren!

Mirna Funk antwortet auf diese Fragen mit einer Gegenfrage: „[Ich] fragte dann, ob jemand Portugalkritik kenne, oder Myanmarkritik, oder Antarktiskritik, oder Kongokritik. Aber die Schüler schüttelten ihre Köpfe, weil sie von dieser Kritik noch nie gehört hatten. Ich versuchte ihnen zu vermitteln, dass politisches Denken wichtig ist, zu zweifeln ist wichtig und Zusammenhänge zu hinterfragen auch, aber, es sei doch auffällig, wenn es für kein anderes Land dieser Welt eine solche Wortschöpfung gibt, obwohl überall auf der Welt Ungerechtigkeit und Leid passiert.“

Die Antwort ist also: Kritik an der Politik in Israel ist notwendig und richtig. Sie aber mit den Verbrechen der Nazis gleichzusetzen ist ebenso falsch und antisemitisch wie die Forderung an alle Jüdinnen und Juden auf der Welt, sich für die israelische Politik zu rechtfertigen.

Es gibt aber auch noch eine andere Seit der Kritik an der deutschen Erinnerungskultur. Nämlich dass sich Veranstaltungen wie diese hier heute häufig in Ritualen und Moralisieren erschöpfen, statt einen Impuls zu geben gegen den Antisemitismus zu kämpfen, der nie aus Deutschland verschwunden war und der in den letzten Jahren sogar wieder zunimmt.

Mirna Funk fordert unter anderem von uns die Beschäftigung mit nicht-jüdischen deutschen Biographien. Wie kann es sein, dass Juden und Jüdinnen genau über das Schicksal ihrer Vorfahren in der Nazizeit Bescheid wissen, die meisten nicht-jüdischen Deutschen aber nichts über das Verhalten ihrer Eltern oder Großeltern in dieser Zeit?

Wir feiern in diesem Jahr 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland – bzw. in dem Gebiet, das erst deutlich kürzer als Deutschland bezeichnet wird. Wer ist also fremd oder anders in unserem Land, wer ist hier heimisch? In Anbetracht dieser langen Geschichte des Judentums hier ist es beschämend, wie wenig die meisten nicht-jüdischen Deutschen über das Judentum wissen. Die Feierlichkeiten in diesem Jahr sollten ein Anlass sein, sich mit dem Judentum zu beschäftigen, damit wir es nicht nur mit den Verbrechen der Shoah verbinden, sondern auch um seine vielfältigen Beiträge zu unserer Kultur und Gesellschaft wissen.

Um unser Gedenken also nicht formelhaft werden zu lassen, sind wir alle aufgefordert, uns mit lebendigem jüdischem Leben in Deutschland zu beschäftigen. Und wir müssen alle dem allgegenwärtigen, täglichen Antisemitismus widersprechen. „Anstatt Juden und Jüdinnen immerzu zu befragen, inwiefern sie von Antisemitismus betroffen seien …, könnte man alle anderen fragen, was sie gegen Antisemitismus tun.“ sagt die Rabbinerin in Ausbildung Helene Shani Braun. Wir alle sollten uns das jeden Tag fragen: Was tun wir gegen Antisemitismus?

In einer Zeit, in der erneut eine rechtsradikale Partei mit 10 % der Wähler*innen-Stimmen in den Bundestag eingezogen ist (in Worpswede waren es immerhin 5 %!), sind wir alle aufgefordert, Stellung zu beziehen. Die Querdenken-Bewegung gibt es auch hier in Worpswede, die Wahlplakate ihrer Partei „Die Basis“ waren auch hier im Wahlkampf omnipräsent. Diese Bewegung ist durchzogen von antisemitischen Erzählungen, nicht immer so explizit wie in den Äußerungen ihres Helden Attila Hildmann, gegen den inzwischen mehrere Verfahren wegen Volksverhetzung laufen.

Mich persönlich widert insbesondere die Diskussion über die Corona-Schutzmaßnahmen an, wenn betont wird, dass doch nur Vorerkrankte gefährdet seien, schwer oder lebensbedrohlich zu erkranken – als ob deren Leben nicht ebenso schützenswert wäre wie jedes andere. Hierin erkennt man die faschistische Fratze des Sozialdarwinismus, der Leben in wertes und unwertes unterscheidet. Auch in der Diskussion über das Impfen begegnen uns die typischen Verschwörungserzählungen, zum Beispiel die Pharmalobby, die angeblich staatliche Entscheidungen diktiert und die Wahrheit über die Nebenwirkungen der Impfung verschweigt. Ich wünsche mir, dass wir alle hier jede Gelegenheit wahrnehmen, solchem Gedankengut zu widersprechen und damit das Gedenken von diesem Tag in aktives Handeln an jedem anderen Tag des Jahres mitzunehmen.

Mirna Funk: Anders, als alle dachten. Deutschlandfunk https://www.deutschlandfunk.de/neuer-antisemitismus-3-6-anders-als-alle-dachten.1184.de.html?dram:article_id=450422

Schritte in der Entrechtung und Verfolgung von Juden 1933-1938:

Hans-Hermann Hubert

28. März 1933: Aufruf zur „planmäßigen Durchführung des Boykotts jüdischer Geschäfte“

7. April 1933: „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ – Ruhestand für Beamte „nicht arischer Abstammung“

4. Oktober 1933: „Schriftleitergesetz“: Redakteure müssen „arischer Abstammung“ sein

8. Dezember 1934: Neue Prüfungsordnung von Apothekern schließt Juden aus

30.September.1935: Alle jüdischen Beamten werden beurlaubt

15. September 1935: „Nürnberger Gesetze“ – Rassegesetze, z.B. „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ – verbietet u.a. Eheschließungen zwischen Juden und Nichtjuden

7. März 1936: Jüdischen Deutschen wird das Reichstagswahlrecht aberkannt.

4. Oktober 1936: Der Übertritt von Juden zum Christentum wird als bedeutungslos für dieRassenfrage definiert – „Tarnung der Abstammung“

8. November 1937: Eröffnung der antisemitischen Hetzausstellung „Der ewige Jude“

16. November 1937: Jüdische Deutsche erhalten nur noch in Ausnahmefällen Auslandspässe

26. April 1938: Jüdische Deutsche müssen die Höhe ihres Vermögens angeben

6. Juli 1938: Juden und Jüdinnen wird die Ausübung bestimmter Gewerbe untersagt (z.B. Makler, Fremdenführer)

27. Juli 1938: Alle Straßennamen mit jüdischem Bezug werden entfernt

17. August 1938: „Durchführungsverordnung“ zum Gesetz über Namensveränderungen: Zusätzliche Vornamen Israel und Sara

ab 30. September 1938: Jüdische Ärzte gelten nur noch als „Krankenbehandler“

5. Oktober 1938: Reisepässe werden mit einem „J“ versehen

28.Oktober 1938: Etwa 15.000 sogen. staatenlose Juden und Jüdinnen werden nach Polen abgeschoben

und das Novemberpogrom 1938 mit 91 Ermordeten, 267 zerstörten Gottes- und Gemeindehäuser und 7.500 verwüsteten Geschäften

Dazu kommen massive Einschränkungen der Bewegungsfreiheit  im öffentlichen Raum und beim Besuch von Kulturstätten, Gastronomie etc.

Gedenkrede

Pastor Jörn Contag

Heute, am Jahrestag der Judenpogrome des Jahres 1938 will ich meine Rede mit der Namensgeberin dieses Platzes beginnen, mit Rosa Abraham.

Aus Nachbarn wurden Juden – auch hier bei uns in Worpswede. Auch in Worpswede hat den seit langem im Ort Beheimateten Juden Rosa Abraham, Walter Steinberg und den sogenannten Halbjüdinnen Betty und Käthi Meyer niemand beigestanden oder die Hand gereicht.

Rosa Abrahams Tochter Henny emigriert 1935 in die USA. Die Frage, ob man emigrieren solle oder nicht, ist für viele deutsche Juden ab 1933 ein zentrales und quälendes Thema. Wer vorhat, Deutschland zu verlassen, ist zu zermürbenden Behördengängen gezwungen. Auch emotionale Gründe hindern viele Deutsche jüdischer Herkunft an einer Auswanderung. Sie empfinden Ihr Land als Heimat, das sie nicht verlassen wollen. Und man klammert sich an die Hoffnung, dass der Spuk bald vorüber sein wird.

Rosa Abraham ist im Herbst 1942 im Vernichtungslager Treblinka ermordet worden. Der Antisemitismus, der Fremdenhass und die Verfolgung von Juden bedeuteten für Rosa Abraham persönlich erlittene Ausgrenzung, Deportation und Tod. Seit 1935 lebte Rose Abraham ohne Angehörige in ihrem Haus. Rosa Abraham besaß zwei Häuser und ein großes Grundstück. Bis 1938 hat Rosa Abraham In einer großen, gut ausgestatteten Wohnung in ihrem Haus gelebt. Perserteppiche und acht Ölgemälde gehörten zur Ausstattung, darunter Bilder von Karl Krummacher und Otto Modersohn, ein Ibach-Piano, selbstverständlich Silberbesteck und wertvolles Geschirr.

Drei Jahre später war sie nahezu mittellos und ohne jede Hoffnung. Gemäß der Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens vom 3. Dezember 1938 musste sie ihren Schmuck und die Ölgemälde zu einem Spottpreis bei der Pfandleihe abliefern. Nach und nach hat sie fast alle ihre Möbel und ihren Hausrat zu Minimalpreisen verkauft. Einen angemessenen Preis dürfte sie nicht verlangen. Durchaus möglich, dass irgendwo in Worpswede noch das Klavier von Rosa Abraham oder Teile des wertvollen Mobiliars und ihres Hausrates stehen. Im November 1941 lebte sie ohne Hab und Gut mit drei gepackten Handkoffern in einem fast leeren Zimmer. Ab 1938 war es Rosa Abraham wie allen Juden im Deutschen Reich verboten, ein Hotel, Restaurant oder Café zu betreten. Sie durfte keine Haustiere mehr halten, keinen „deutschen“ Friseur mehr aufsuchen und nur noch mit Genehmigung mit dem Zug oder dem Bus fahren. Für Juden gab es weder Fisch noch Fleisch, weder Weißbrot noch Brötchen, keine Vollmilch, keine Butter oder Eier, kein Obst, weder Schokolade noch Kuchen, weder Kaffee noch Tee, keinen Wein oder anderen Alkohol.

Rosa Abraham wurde unter Druck gesetzt, ihr Haus und ihr Grundstück zu verkaufen. Ein Verkauf des Hauses für 30.000 Reichsmark scheiterte. Der damalige Bürgermeister Bartke mahnte den Kaufwilligen, das Angebot der Gemeinde und Partei von 12.000 Reichsmark nicht zu überbieten – die Gemeinde und die NSDAP hätten „schon die Hand darauf“ und Pläne mit dem Haus. Von dem Verkaufserlös von 12.000 Mark gingen 5.400 Reichsmark als „Judenabgabe“ an die Finanzkasse in Osterholz und 6.600 Reichsmark auf ein Sperrkonto. Am 18. März 1942 zieht Rosa Abraham, ausgeplündert und von allen WorpswederInnen im Stich gelassen, nach Bremen. Dort hat sie noch 4 Monate bis zu ihrer Deportation gelebt.

Ich habe zehn Jahre Leid in wenig mehr als 10 Zeilen zusammengefasst. Warum erinnern wir an das Schicksal der Worpsweder Bürgerin Rosa Abraham und an die Zerstörung von mehr als 1400 Synagogen, Betstuben sowie tausender Geschäfte, Wohnungen und jüdischen Friedhöfe, die Ermordung tausender Juden zwischen dem 7. und dem 13. November 1938?

Wir erinnern für die Zukunft. Wir müssen über die Vergangenheit reden, um sie nicht zu wiederholen. Hitler war kein Unglücksfall unserer Geschichte. Er wurde gewählt. Im Jahr 1933 haben sich die Nationalsozialisten auch in Worpswede durchgesetzt. Bei der Reichstagswahl am 5. März des Jahres erhält die NSDAP in Worpswede fast 55% der Stimmen, etwa 10% mehr als im Reichsdurchschnitt.

Man hat dem Ungeist die Tür geöffnet und ihn nicht mit eigener Macht vertrieben. Wir heutigen stehen oft mit Fassungslosigkeit davor, was sich unter unseren Augen ereignet oder woran unsere Vorfahren mitgewirkt haben. Von Rosa Abraham wird berichtet, sie habe viele Freundinnen gehabt. Wo waren diese Freundinnen, als sie nach Bremen zog, warum erzählte sie niemandem von ihrem Emigrationswunsch?

Nach 1945 haben viele entschuldigend und achselzuckend gesagt: „Ich habe ja nichts getan!“ Und genau das ist die bittere Wahrheit. Sie haben nichts getan. Sie haben nicht widersprochen, sie haben nicht an der Seite ihrer Landsleute gestanden, sie haben den Lügen glauben wollen. Sie haben in der Zionskirche gesessen, in der der Gottesname יהוה über dem Altar übermalt wurde. Es waren zu wenige Stimmen, die widersprachen, wie die Dietrich Bonhoeffers: „Nur wer für die Juden schreit, darf gregorianisch singen.“ Ja, es stimmt: sie haben gar nichts gemacht, als der Hass durch Deutschland fegte.

Vor Jahren war ich im KZ Buchenwald und konnte nicht fassen, dass es keine 20 km von Weimar entfernt liegt, der Stadt Goethes, Wielands, Herders und Schillers. Kultur und Barbarei einen Fußmarsch voneinander entfernt. Wie konnte man die Botschaft der Ringparabel aus Lessings „Nathan dem Weisen“ verleugnen und den Ungeist nach 1933 gewähren lassen?

Wir erinnern, um zu verstehen, denn wer nicht versteht, muss wiederholen. Wie konnte sich die Gesellschaft der Deutschen derart zersetzen lassen? Ich habe nicht den Anspruch, das immer noch Unfassbare gedanklich erfassen zu können. Aber ich will ganz persönlich sagen, wozu mich der Vernichtungswille mahnt, der in der Pogromnacht zum Ausdruck kam und den Rosa Abraham erleiden musste.

Gesellschaften funktionieren, wenn ihre Teilnehmer sich einig sind, das jeweils moralisch Beste zu tun und der Wahrheit verpflichtet zu sein. Gesellschaften können auch dann noch Unrechtes tun, aber sie tun es nicht gerne und sie sind zur Reform und Entwicklung fähig. Gute Gesellschaften streiten um das jeweils moralisch Beste und Wahre. Wo aber wichtige Akteure von Gesellschaften die Wahrheit verdrehen und das Böse anstreben, da können Gesellschaften scheitern.

Der Konsens, moralisch zu handeln und der Wahrheit verpflichtet zu sein, ist besonders in Krisenzeiten wichtig. Hitler ist aus der Krise der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts erwachsen. Der NS-Staat hat aus einem latenten Antisemitismus ein Mordprogramm gemacht. Mit kalkulierter Unwahrheit und dem Willen zum Bösen. Wenn eine Gesellschaft mit dem Willen zum Bösen und kalkulierten Lügen konfrontiert wird, dann beginnt sie sich zu zersetzen. Rosa Abraham wurde von der Nachbarin zur Volksfeindin, Teil des „bolschewistischen Weltjudentum“, war „rasseunwert“.

Krisen können das Beste, aber auch das Schlechteste aus uns Menschen hervorrufen. Krisen können zu Solidarität führen und zu Konkurrenz und Hass. Ein Klima der Lüge und der Unmoral bringt das Böseste hervor. Davor müssen wir uns schützen. Wir sehen heute wieder Staatenlenker, die in ihren Gesellschaften den Kompass von Moral und Wahrheit zu zerstören suchen. Die Lügen Donald Trumps waren derart inflationär, dass zwischen Wahrheit und Lüge nicht mehr unterschieden werden konnte.

Unsere Zeit ist eine Krisenzeit. Die Angst, digital abgehängt zu werden, unfassbares Wohlstandsgefälle auch in entwickelten Ländern, Angst vor sozialem Abstieg, die Angst, die Klimakrise nicht bewältigen zu können, Corona und vieles mehr sind ein Nährboden für Angst. Und Angst ist die Nahrung für Schuldzuweisungen und Sündenböcke.

Derzeit erreichen Fakenews und Verschwörungserzählungen rund um das Corona-Virus ein Millionenpublikum: im Netz, auf der Straße und im Bekanntenkreis. Ihre einfachen Erklärungen funktionieren darüber, einen Sündenbock zu benennen. Das ebnet den Weg in antisemitische und rassistische Weltbilder. Und das führt zu konkreten Angriffen auf konkrete Gruppen: Jüdinnen und Juden, asiatisch gelesene Personen, Asylsuchende, Menschen mit Einwanderungsgeschichte, WissenschaftlerInnen sind betroffen. Das macht mir Angst.

Es macht mir Angst, wenn die AfD mit dem Slogan „Deutschland – aber normal“ in die Parlamente gewählt wird. Wer ist denn hier normal? Der Begriff der Normalität und das mit ihm einhergehende Konzept des Normalen ist bei Weitem nicht so harmlos und frei von Hass und Gewalt, wie es scheint. Vielmehr ist die Geschichte der Normalität immer schon eine Geschichte der Ausgrenzung und des Leidens. In den Nürnberger Gesetzen heißt es zur Normalität: „Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksicht auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.“ Was versteht die AfD unter normal?

Es macht mir auch Angst, wenn der Vorstandsvorsitzende des Springer-Verlages und Präsident des „Bundesverbands Digitalpublisher und Zeitungsverleger“ vom „neuen DDR-Obrigkeitsstaat“ schwadroniert – und das mutmaßlich aus der obersten Etage des Springer-Hochhauses mit Blick auf die ehemalige DDR.

Diese Beispiele sollen genügen. Wo Wahrheit bewusst verdreht und dem Hass das Wort geredet wird, da verliert eine Gesellschaft ihre Koordinaten. Aus dem „das wird man doch noch sagen können“ oder „es war nur ironisch gemeint“ wird eine neue Wahrheit und eine neue Moral, der wir nicht den Boden überlassen dürfen.

Ich habe Furcht, weil dieser Ort uns beispielhaft zeigt, was aus einer Gesellschaft werden kann, die sich nicht wehrt. Die die Anfänge nicht beim Namen nennt. Die geschehen lässt. Und ihre eigene Rolle mit „Ich habe ja nichts gemacht“ umschreibt und diese Haltung für moralisch hält.

Als Theologe möchte ich einen Satz aus der Bibel zitieren, der ebenfalls in einer Krisenzeit geschrieben wurde: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“ (2 Timotheus 1,7)

Lassen Sie uns darauf vertrauen. Auf unsere Kraft: notwendigem Streit nicht aus dem Wege zu gehen, deutlich zu sagen, wo Menschen ausgegrenzt und rechtlos bleiben und wo die Wahrheit verdreht wird. Auf unsere Liebe: allen Menschen mit Respekt zu begegnen, unabhängig ihrer Herkunft und Nationalität, ihrer Überzeugungen, ihres Alters, ihrer Religion und ihrer geschlechtlichen Orientierung. Auf die Besonnenheit: alles in Ruhe zu prüfen, ob es dem guten Zusammenleben dient, ob es gerecht und wahrhaftig ist und ob es die Welt zu einem guten und lebenswerten Ort macht.

Berichte über Ereignisse am 9. November 1938 in Niedersachsen

(Oldenburg, Lüneburg, Hannover), Bernd Moldenhauer

Wir lesen drei Berichte über den 9. November in Niedersachsen. Über Oldenburg, über Lüneburg, heute der Sitz der Bezirksregierung, und über Hannover, die Landeshauptstadt.

Oldenburg

Bereits acht Monate vor der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 und der Machtübernahme durch die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) im Deut­schen Reich hatten die  Nazis im Freistaat Oldenburg das Sagen: Vor 81 Jahren, bei den Land­tagswahlen am 29. Mai 1932, errang die NSDAP in Oldenburg die absolute Mehrheit.  Damit war Oldenburg das erste Land im Deutschen Reich, in dem die Partei  eine absolute Mehrheit hatte.

Den in Lemwerder (Wesermarsch) geborenen Carl Röver machten die Nazis  zu ihrem Minister­präsidenten. Er hatte für dieses Amt auf ausdrücklichen  Wunsch Hitlers kandidiert.  Die politische Stimmung insgesamt in der Bevölkerung beförderte die Nationalsozialisten. …. Während der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945 war Oldenburg Gauhauptstadt im Bereich Weser-Ems. Gaulei­ter war lange Zeit Carl Röver, der  die Regierungsgeschäfte des Freistaates Oldenburg nur zehn Monate geführt  hatte. Im Zuge der Gleichschaltung der Länder wurde er 1933 zum Reichsstatthal­ter von Oldenburg und Bremen ernannt.

In der Reichspogromnacht vom November 1938 zerstörte der NS-Mob – der  Hauptverantwortliche für alle „Aktionen“ in Oldenburg und im Umland war  NSDAP-Kreisleiter Wilhelm Engelbart – die Synagoge und die kleine jüdische  Schule, daneben auch die Trauerhalle auf dem jüdischen Fried­hof in Osternburg. Alle Juden Oldenburgs wurden in der Nacht verhaftet und in der Polizeikaserne am Pferdemarkt inhaftiert.  Während Frauen und Kinder am nächsten Morgen wieder freigelassen wurden, deportierte man die Männer zusammen mit Juden Ostfrieslands ins KZ  Sachsenhausen. …..  Von den Verhafteten  war der älteste 80 Jahre alt, der jüngste war 15.

Der 9. November in Lüneburg

Bereits vor der NS-Machtübernahme 1933 kam es in Lüneburg zu antisemitischen Ausschreitun­gen; im „Niedersachsen Stürmer” hetzte der spätere  Gauleiter Otto Telschow offen gegen den jü­dischen Bevölkerungsteil Lüneburgs. Anfang August 1929 wurde ein Bombenattentat auf das Haus des  ortsansässigen jüdischen Anwaltes Dr. Strauß verübt.  In der Ausgabe vom 7. Juni 1929 ist der folgende Schmähartikel zu finden: „Juda in Lüneburg.  Juda feiert in Lüneburg geradezu Triumphe, das Spießerstädtchen mit seiner großen bürgerlichen  Vergangenheit im Mittelalter steht heute unter dem Einfluß  des Marxismus, der Juden und Freimaurer.  ….“

Die ersten Boykottmaßnahmen gegenüber jüdischen Geschäften setzten in  Lüneburg bereits am 29.März 1933 ein. Bis 1938 war der größte Teil der Juden Lüneburgs entweder in die Großstädte, meist nach Hamburg, abgewandert oder ins Ausland emigriert. Die immer kleiner werdende Ge­meinde Lüneburgs hatte sich daher entschlossen, das Synagogengrundstück mitsamt Gebäude zu verkaufen; der Synagogenvorstand fand in der Industrie- und  Handelskammer einen Käufer. Der Abbruch der Synagoge am Schifferwall  war für Ende Oktober 1938 geplant; wenige Tage vorher fand der letzte jüdische Gottesdienst in der Synagoge statt.

Das „lsraelitische Familienblatt“ berichtete über die letzte Gottesdienstfeier in der Lüneburger Syn­agoge vor der Reichspogromnacht im November 1938:  „Abschiedsgottesdienst.  Am vergangenen Sonntag (Anm.: 23.0ktober ) versammelten sich die Mitglieder und viele jetzt in an­deren Orten wohnende ehemalige Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Lüneburg in deren Syn­agoge zu einem Abschiedsgottesdienst. Die Gemeinde Lüneburg, die vor 50 Jahren noch 60 Fami­lien zählte mit über 200 Seelen, vor fünf Jahren immer noch 20 Familien stark war, ist heute auf fünf Familien zusammengeschmolzen, von denen in allernächster Zeit noch zwei auswandern, so daß nicht nur auf absehbare Zeit kein Gottesdienst mehr  möglich ist, sondern auch die mit dem Bau zusammen­hängenden Lasten nicht mehr getragen werden können. Schweren Herzens hat man sich ent­schlossen, die erst 44 Jahre alte  Synagoge  zum Abbruch zu verkaufen.  Es wurden sämtliche  Tora­rollen ausgehoben und einige Male im Umzug durch die  Synagoge getragen, wobei Vorbeter und Chor die traditionellen Melodien vortrugen.“  

In der Pogromnacht wollten SA-Angehörige das Synagogengebäude in Lüneburg in Brand setzen. Erst als ihnen mitgeteilt wurde, dass das Gebäude  bereits in „arischem“ Besitze war, ließen sie von ihrem Vorhaben ab. Die zweı noch bestehenden jüdischen Geschäfte – das Kaufhaus GUBI und ein  Schuhgeschäft – wurden demoliert; die wenigen jüdischen Männer wurden tags darauf verhaftet und ins KZ Sachsenhausen verschleppt. Einige von ihnen emigrierten von dort direkt, andere wurden Wochen später aus der KZ-Haft  entlassen.

Die Synagoge in Hannover wird niedergebrannt. 

Die Neue Synagoge in Hannover befand sich in der Bergstraße in der Calenberger Neustadt.  ln den 1930er Jahren wurden mehrere Anschläge auf die Synagoge verübt. Am 6. März 1933  gab es einen ersten Brandanschlag; 1935 wurden erst das Tor und bald darauf auch Fenster der Synago­ge beschädigt. Die Synagoge wurde bei den Novemberpogromen am 9. November 1938 in Brand gesteckt. Sie brannte dabei aus, später wurde sie gesprengt und abgetragen. An ihrer Stelle ent­stand um 1940 ein Tiefbunker, der nach dem Krieg in eine Tiefgarage  umgewandelt wurde. 

1958 wurde wenige Meter vom ehemaligen Standort der Synagoge zur Erinnerung an das  Pogrom eine Gedenktafel angebracht. 1978 wurde an der Stelle eine Gedenkstätte eingerichtet, die 1993 erweitert wurde.

Das Grundgesetz

Sabine Oberer-Cetto

Als Lehre aus diesen Verbrechen entstand das Grundgesetz.

Art 1 

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Aber haben wir wirklich gelernt? Wie kann es dann sein, dass Juden und Jüd*innen immer wieder angegriffen werden und das eine Partei wie die AfD im Bundestag sitzt?

„Im Gedenken an die Nacht der Judenverfolgung in Deutschland am 9. /10. November 1938“

Gedicht von Erich Fried, gelesen von Katharina Hanstein-Moldenhauer

Diese Toten

Hört auf, sie immer Miriam
und Rachel und Sulamith
und Aron und David zu nennen
in euren Trauerworten!
Sie haben auch Anna geheißen
und Maria und Margarete
und Helmut und Siegfried:
Sie haben geheißen wie ihr heißt

Ihr sollt sie euch nicht
so anders denken, wenn ihr
von ihrem Andenken redet,
als sähet ihr sie
alle mit schwarzem Kraushaar
und mit gebogenen Nasen:
Sie waren manchmal auch blond
und sie hatten auch blaue Augen

Sie waren wie ihr seid.
Der einzige Unterschied
war der Stern, den sie tragen mußten
und was man ihnen getan hat:
Sie starben wie alle Menschen sterben
wenn man sie tötet
nur sind nicht alle Menschen
in Gaskammern gestorben

Hört auf, aus ihnen
ein fremdes Zeichen zu machen!
Sie waren nicht nur wie ihr
sie waren ein Teil von euch:
wer Menschen tötet
tötet immer seinesgleichen.
Jeder der sie ermordet
tötet sich selbst.

Kaddisch – Das Gebet der Heiligung Gottes

Vorgetragen von Ian Bild

Transliteration

Jitgadal vejitkadasch sch’mei rabah.(Gemeinde:Amen)
B’allma di v’ra chir’usei v’jamlich malchusei, b’chjeichon, uv’jomeichon, uv’chjei dechol beit Jisroel, ba’agal u’vizman kariv, v’imru : Amein.
(Gemeinde: Amein. Je’hei sch’mei raba m’vorach l’allam u’l’allmei allmaja)
J’hei sch’mei raba m’vorach,l’allam, u’l’allmei allmaja. Jitbarach, ve jischtabach ve jispaar, ve jisromam, ve jisnasei, ve jishadar, ve jishadar, ve jisaleih, ve jishalal schemeih d’kudschah b’rich hu (Gem.: B’rich hu)
Le eihlah min kol Bir’chasah ve schiratah tuschbechatah ve nechematah, de ami’ran Be’allmaja, v’imru: Amein
(Gem.:Amein) Je heih schlahmah rabbah min schmajah,ve chjim aleinu ve al kol jisroel v’imru: Amein
(Gem.: Amein)
Der Betende macht drei Schritte zurück,beugt sich nach links und sagt Oseh, beugt sich nach rechts und sagt ‚hu b’rachamah ja’aseh;und beugt sich nach vorn und sagt Ve al kol jisroel v’imru :Amein.

Oseh schalom bim’ro’mav,

hu b’rachamah ja’aseh schalom aleinu, ve al kol jisroel v’imru :Amein (Gem.:Amein)

Übersetzung

Erhoben und geheiligt werde sein großer Name
auf der Welt, die nach seinem Willen von Ihm erschaffen wurde – sein Reich soll in eurem Leben in den eurigen Tagen und im Leben des ganzen Hauses Israel schnell und in nächster Zeit erstehen.
Und wir sprechen: Amein!
Sein großer Name sei gepriesen in Ewigkeit und Ewigkeit der Ewigkeiten.
Gepriesen sei und gerühmt, verherrlicht, erhoben, erhöht, gefeiert, hocherhoben und gepriesen sei Name des Heiligen, gelobt sei er, hoch über jedem Lob und Gesang, Verherrlichung und Trostverheißung, die je in der Welt gesprochen wurde, sprechet Amein!
Fülle des Friedens und Leben möge vom Himmel herab uns und ganz Israel zuteil werden,
sprechet Amein.
Der Frieden stiftet in seinen Himmelshöhen, stifte Frieden unter uns und ganz Israel,
sprechet Amein.

Bei diesem Kaddisch handelt es sich um die Grundform, zwei veränderte Versionen findet man in den Siddurim.
Die Übersetzung folgt in Teilen der Übersetzung von Rabbiner Dr. S. Bamberger.