14. März 2022

Das Menschenbild, das Putin, die AfD und Gegner*innen der Coronamaßnahmen eint

Wir lebten nach dem Ende des kalten Krieges und der deutschen Wiedervereinigung lange Zeit in einer friedlichen und wohlhabenden Gesellschaft. Die Auseinandersetzung mit unseren moralischen Überzeugungen war vor allem eine theoretische Diskussion und hatte wenig mit unserem täglichen Leben zu tun, zumindest für diejenigen unter uns, die der weißen Mehrheitsgesellschaft angehören.

Inzwischen leben wir in einer Zeit der Krisen, beginnend mit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009, die die soziale Ungleichheit in unserem Land weiter befördert hat.  Das Bewusstsein für die Bedrohung durch den Klimawandel hat durch die Fridays for Future-Bewegung zugenommen. Und seit 2 Jahren leben wir in einer Pandemie, insbesondere diese Krise bestimmt seitdem unser tägliches Leben und hat unsere Gesellschaft stark verändert.

Vor 7 Jahren verursachte der heute immer noch anhaltende Krieg in Syrien eine verstärkte Fluchtbewegung, in der auch viele Geflüchtete Deutschland erreichen konnten – eine Situation, die von einigen ebenfalls als „Krise“ tituliert wurde, die unsere Gesellschaft aber gut meistern bzw. „schaffen“ konnte. Doch in diesem Zuge erstarkte der Rechtsextremismus in Deutschland bis zum Einzug einer rechtsradikalen Partei in den Bundestag und alle Länderparlamente, eine Situation, die ich persönlich als schwere Krise unserer Demokratie empfinde.

Ganz aktuell erleben wir die Eskalation des russischen Krieges gegen die Ukraine durch den massiven Angriff und Einmarsch der russischen Armee in das Land. Auch vor diesem Krieg müssen nun in kurzer Zeit viele Menschen fliehen, auch zu uns nach Deutschland.

Diese Krisen führen dazu, dass die Ethik und Moral, der wir folgen, nicht mehr nur theoretische Diskussionen sind, sondern unser tägliches Handeln beeinflussen. Und dazu, dass wir die moralischen Grundsätze unserer Mitbürger*innen kennenlernen, die uns früher verborgen blieben.

Es ist kein Zufall, dass die AfD, die sich als Partei der Impfgegener*innen zeigt und sich gegen die Corona-Maßnahmen stellt, gleichzeitig Putin-freundlich ist und den menschengemachten Klimawandel leugnet. Denn all dem liegt die gleiche Grundeinstellung zugrunde.

Welches Menschenbild zeigt sich, wenn das Wochenmagazin „Die Zeit“ 2018 eine Pro- und Contra-Diskussion in ihrer Zeitung zur Seenotrettung im Mittelmeer überschreibt mit: „Oder soll man es lassen?“. Eines, das Menschenleben als nicht gleichwertig ansieht, denn ein verunglücktes Kreuzfahrtschiff würde wohl keine solche Diskussion hervorrufen. Eine flüchtende Schwarze Person verdient also nicht den gleichen Schutz, wie ein Urlauber?

Welches Menschenbild offenbart sich, wenn Menschen seit Beginn der Pandemie ihre sog. Freiheit fordern, keine Maske tragen zu müssen und nicht in ihren Kontakten eingeschränkt zu werden, weil doch ohnehin nur die Kranken und Alten an dieser Erkrankung sterben würden?

Welches Menschbild hat jemand, der auf dem Recht, über seinen eigenen Körper zu entscheiden beharrt, indem er eine erwiesenermaßen sichere Impfung ablehnt, wodurch er diejenigen gefährdet, die sich nicht durch diese Impfung schützen können, oder bei denen der Schutz nicht ausreichend wirkt?

Und welches Menschenbild hat ein autoritärer Herrscher, der zur Sicherung der eigenen Interessen und aus einem alten Großmachts- und Lagerdenken, ein anderes Land überfällt und den Tod unschuldiger Zivilisten dabei nicht nur in Kauf nimmt, sondern offenbar gezielt beabsichtigt, wie die Angriffe auf Wohnviertel, Schulen und sogar eine Entbindungsklinik zeigen?

Es ist ein Menschenbild, das den eigenen Vorteil über den Schutz der Schwächeren stellt. Eines, das den Wert eines Menschen anhand seiner Nützlichkeit bewertet. Ein Menschenbild, das nur den „normalen Menschen“, der jung und gesund ist, der für seinen Lebensunterhalt selbst sorgen kann und damit den Wohlstand der Gesellschaft erhöht, statt ihr als Hilfeempfänger „auf der Tasche zu liegen“, als schützenswert ansieht.

Die schockierendste Ausprägung dieser Einstellung haben wir in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland gesehen. Damals wurden Menschen anhand einer angeblichen „Rassenzugehörigkeit“ und anhand ihres Nutzens eingeteilt in wertes und unwertes Leben. An den „unwerten“ Personen wurden abscheuliche medizinische Versuche unternommen, Millionen wurden auf der Grundlage dieses Menschenbildes ermordet. Auch der deutsche Angriffskrieg war eine direkte Folge dieser Ideologie. Diese Zeit ist die Grundlage des „Nie wieder!“, das wir uns zur Aufgabe gemacht haben.

Aber diese Ideen waren in den dreißiger Jahren nicht neu und sind nicht von den Nazis erfunden worden. Sie sind auch mit dem Ende des Krieges nicht verschwunden. Zum Beispiel die Lehre der Eugenik, die auf die genetische Verbesserung des Menschen zielt und von den Nazis als Begründung für die Sterilisation und Ermordung von Menschen mit Behinderung und sog. „Asozialen“ diente, hat ihre Ursprünge in der Zeit Darwins und lebt bis heute in den Diskussionen zu modernen genetischen Methoden fort. Sie spiegelt sich auch in der Behindertenfeindlichkeit unserer modernen Gesellschaft wider. Der Weg von dieser theoretischen Einstellung zur Tat ist nicht sehr weit und besteht nicht nur aus aktivem Handeln, sondern auch aus Unterlassen.

In der Ukraine werden jeden Tag Menschen getötet, um dem Plan Putins dienen. Und der Chefredakteur der Zeitung „Die Welt“, Ulf Poschardt, glaubt, Putin würde gestärkt durch die (Zitat) „Dekadenz“, den (Zitat) „naiv-entrückten Zeitgeist“ und die (Zitat) „moralische Gewissheit“ Europas und vor allem Deutschlands. Er sieht dies als Schwäche und fordert, wir müssten wieder (Zitat) „wehrhaft“ werden.

Ich glaube, dass das Gegenteil richtig ist. In Zeiten der Krisen offenbart sich die Stärke unserer Moral. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Da steht nicht die Würde des deutschen, jungen, gesunden Menschen. Dieser Satz meint gerade die Schutzbedürftigen unter uns. Gerade jetzt ist es wichtig, diesen Satz jeden Tag zu verteidigen, in all den krisenhaften Situationen, in denen wir uns befinden.

Das bedeutet konkret Solidarität mit und Hilfe für alle Geflüchteten, aus der Ukraine, aus Syrien, Afghanistan, Libyen oder woher auch immer.

Das bedeutet Solidarität mit den sogenannten „Risikogruppen“. Familien mit vorerkrankten Kindern, die nicht geimpft werden können, oder bei denen die Impfung nicht ausreichend wirkt, isolieren sich seit 2 Jahren und müssen täglich zwischen der Gesundheit ihrer Kinder und deren psychischem Wohlergehen und dem Zugang zu Bildung entscheiden. Sie kommen in der öffentlichen Wahrnehmung kaum vor und bezeichnen sich deshalb als Schattenfamilien. Diese Familien schützen wir vor allem damit, dass sich genügend Menschen impfen lassen!

Das bedeutet aber auch Solidarität mit den zukünftigen Generationen und damit der entschiedene Kampf gegen den menschengemachten Klimawandel. Wir dürfen die Abhängigkeit von russischen Energielieferungen nicht zum Anlass nehmen, die Maßnahmen zur Erlangung der Klimaneutralität zurückzunehmen oder zu verzögern.

Diese Solidarität mit den Schwächeren ist der Grund, warum wir heute hier stehen, warum das viele von uns regelmäßig seit Wochen tun. Nicht denen die Öffentlichkeit und die Straße zu überlassen, die ihre eigenen Interessen über die der Schwächeren stellen. Um zu zeigen, dass wir dieses Menschenbild nicht teilen, sondern das solidarische, das die Grundlage unserer Gesellschaft bildet.